scripturire

Geschichte des Nationalsozialismus

Die Ideosphären, fünfter Versuch

Das heimliche Thema jener Vorlesungsreihe „Das Neutrum“, die der französische Semiologe Roland Barthes im Studienjahr 1977-1978 am Pariser Collège de France gehalten hatte, war die Macht. Genauer: die Möglichkeiten, sich der Macht zu entziehen, wenn nicht ihr zu widerstehen. Gleich zu Beginn war Barthes schon auf seine Probleme mit jenem Mana-Wort „Macht“ zu sprechen gekommen, womit er dessen damals gebräuchliche inflationäre Verwendung unter den französischen Intellektuellen ironisierte (Barthes 2005: 35 f.). Als Mana-Wort (ein Ausdruck, den er von Claude Lévi-Strauss übernahm) galt ihm eines, „dessen brennende, vielgestaltige, nicht zu fassende und gleichsam sakrale Bedeutung die Illusion gibt, dass man mit diesem Wort auf alles antworten kann“ (Barthes 2010: 152). Und sein ureigenes Mana-Wort war eben nicht „Macht“, sondern „Körper“ (Ette 2002: 327-377; Samoyault 2015: 639-689).

Als Barthes im zweiten Teil seiner Vorlesung vom 25. März 1978 auf das Verhältnis zwischen „Ideosphäre“, jetzt im Singular verstanden als Sprache, die im politischen Raum hegemonial geworden ist, und „Macht“ zu sprechen kam, standen seine Ausführungen dann auch unter dem doppelten Vorbehalt, sie dienten dazu, „der gegenwärtigen Mode zu huldigen“, und es handelte sich dabei nur „ein oder zwei rasch hingeworfene Bemerkungen“. Diese begannen wie folgt: „1. Verhältnis zwischen Ideosphäre (Sprache) und Macht (im Singular: der politischen, staatlichen, nationalen Macht) […]. a) Die Ideosphäre bildet sich tendenziell als doxa heraus, das heißt als »Diskurs« (partikulares Sprachsystem), der von seinen Benutzern als universeller, natürlicher selbstverständlicher Diskurs aufgefaßt wird, dessen Typik unsichtbar bleibt, dessen »Äußeres« an den Rand gedrängt, marginalisiert, zur Abweichung erklärt wird: Gesetzesdiskurs, der nicht als Gesetz wahrgenommen wird“ (Barthes 2005: 158 f.).

Damit sich eine Ideosphäre als hegemonial etablieren kann, bedarf es also ihrer Naturalisierung und Invisibilisierung beziehungsweise, damit einhergehend, der Ausschaltung konkurrierender Ideosphären. Der neue Diskurs muss als ein selbstverständlicher erscheinen, die Mechanismen, mittels derer dies erreicht werden soll, müssen unsichtbar bleiben und ihm entgegenstehende Diskurse verdrängt werden. Diese Normalisierung bedarf einer gewissen Zeit und muss von den Individuen in ihrem Sprachgebrauch auf je eigene Art und Weise nachvollzogen werden. Barthes verengte die bisherige gesellschaftsgeschichtliche Perspektive seiner Analyse der Ideosphäre hier auf einen einzelnen Aspekt: das Interagieren zwischen der Macht (dem System der Politik) und der Sphäre der Öffentlichkeit (der öffentlichen Meinung): „Die politische Wissenschaft kümmert sich (noch) nicht um Probleme der Sprache (Verhältnis von Diskurs und Macht. Die Politik denkt sich ohne Sprache; unter allen »Disziplinen« verleugnet, verdrängt gerade sie das Objekt Sprache am gründlichsten): die Ideosphäre (Diskurs der doxa): eine Art regulativer, homöostatischer Apparat, der die Macht innerhalb optimaler Grenzen reguliert. Die Macht kann nicht ohne Gefahr (für sich selbst) Grenzen und Normen der öffentlichen Ideosphäre überschreiten“ (ebd.: 159).

Was heißt dies für die hier zu erörternde Frage nach einer nationalsozialistischen Ideosphäre? Es kann bei deren Analyse nicht darum gehen, die Seite der Macht nur als Produzierende, die Seite der Öffentlichkeit nur als Konsumierende einer spezifischen Sprache zu konzeptualisieren. Im Gegenteil: Barthes kehrt die Perspektive um und behauptet eine Begrenzung der Macht durch die Ideosphäre! Diese Position widerspricht diametral dem Ansatz der bisherigen NS-Forschung zu den Massenmedien nach 1933! Ihr zufolge boten die NS-Medien, also Radio, Zeitungen, Kino und Staats- und Parteiverlage, deren Elaborate von Historikerinnen und Historiker gemeinhin zur Analyse der „Lingua Tertii Imperii“ (Victor Klemperer) genutzt werden, eine Sprache an, der sich Einzelne entweder bedienen oder nicht bedienen konnten. Die Massenmedien werden dabei in der Regel als vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda gelenkte gedacht und damit der Seite der Macht zugeordnet. Sie fungieren insofern als Sendende, ihr Publikum als Empfangende sprachlicher oder semiotischer Botschaften (als Resümee Zimmermann 2007). Das einzige Zugeständnis, das die NS-Forschung in diesem Denkmodell an den „Eigen-Sinn“ (Lüdtke 2015) des Publikums macht, betrifft das Feld der massenkulturellen Produktion. Demnach habe das NS-Regime bei Radioprogramm, Zeitschriftenprodukten und Kino dem Publikumsgeschmack zu folgen versucht (Marßolek/von Saldern 1998; Dussel 2019; Garnacz 2021). Dies ist allerdings nichts NS-Spezifisches, denn Massenkultur ist (der Begriff sagt es ja bereits!) generell von der Abnahmebereitschaft des Publikums abhängig.

Am deutlichsten wird die Vernachlässigung der Empfangenden-Macht in einer vor zehn Jahren erschienenen Edition zur NS-Propaganda, die Bernd Sösemann, emeritierter Lehrstuhlinhaber für Geschichte der öffentlichen Kommunikation an der FU Berlin, zu verantworten hat (Sösemann 2011). Sösemann muss sich den Vorwurf gefallen lassen, mit dieser dickleibigen, insgesamt 1250 Dokumente, Bilder und Tabellen umfassenden Quellensammlung seine beiden Hauptziele – zum einen die Propagandakommunikation im NS-Staat multiperspektivisch zu erfassen, zum anderen die Ebene der Rezipierenden einzubeziehen (S. XLIII) – mit Pauken und Trompeten verfehlt zu haben. Mit etwas gutem Willen lassen sich insgesamt sechs leidlich bekannte Dokumente (Nr. 737, 827, 951, 1005, 1010, 1016) mit der Rezeption von NS-Propaganda in Verbindung bringen. Bei allen anderen Dokumenten handelt es sich in der Regel um das von NS-Stellen produzierte Schrifttum selbst, ohne dass die Produktionsbedingungen thematisiert würden.

Das Dilemma dieser Edition beginnt schon in Abschnitt I der Einführung (S. XIX-LIX), die die Lesenden nicht an die komplexe institutionelle Struktur der NS-Propaganda heranführt, sondern unter explizitem Rückgriff auf die Kategorie „Volksgemeinschaft“ die generelle Entwicklung des NS-Regimes darzustellen sucht. Jedoch ist Sösemann weder mit der Debatte über diesen Begriff (dazu jetzt zusammenfassend Schmiechen-Ackermann/Buchholz/Roitsch/Schröder 2018) noch mit der neuen NS-Forschung sonderlich vertraut. Pausenlos produziert er Plattitüden, etwa, dass sich das NS-Regime nie zu einem schlüssigen Gesamtsystem (was immer das ist) fortentwickelt habe (S. XXXIII), das Urteilsvermögen von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels „im Theater und filmischen Sektor unzulänglich“ gewesen sei (S. XLVII) und es seit 1933 überhaupt kein „klares, allgemein verbindliches medienpolitisches Konzept“ gegeben habe (S. XLIX). Der methodische Zugriff Sösemanns, der über die Begriffskonglomerate „Verfassung, Verwaltung, Recht“ sowie „Öffentlichkeit, weltanschauliche Mobilisierung, Propagandakommunikation“ erfolgt, erlaubt es zudem nicht, das empirische Material inhaltlich zu gewichten.

Die Quellen, die Sösemann präsentiert, müssen immer für sich selbst sprechen. Es gibt keine Annotationen, keine Begriffs- oder Namenserläuterungen, geschweige denn Ausführungen zur Überlieferungsgeschichte. Bei vielen Dokumenten bleibt außerdem zu fragen, was sie eigentlich in einer solchen Edition zu suchen haben. Ein beredtes Beispiel bilden die „Anweisungen zum Telefonieren“, die die Reichspostdirektion München auf der ersten Seite ihres Fernsprechbuches im März 1941 ausgegeben hat (Nr. 977). Darin lesen wir unter 2. „Erst Rufnummer nachschlagen – dann Hörer abnehmen“ und unter 6. „Hörer nicht abnehmen, wenn man nicht sprechen will“. Solchen Quisquilien stehen jedoch auch nützliche Tabellen gegenüber, etwa zur Häufigkeit von Kraft-durch-Freude-Fahrten (Nr. 957) oder zur regionalen Verteilung der NS-Tagespresse (Nr. 1054). Hingegen sind die meisten jener Schaubilder und Organigramme, die Sösemann zu den NS-Institutionen erstellt hat, unbrauchbar (z. B. die Nr. 107, 750, 1024, 1063, 1070). Auch bei vielen Abbildungen und Faksimiles fragt man sich, inwiefern eine Reproduktion zielführend war (z. B. Nr. 625, 780, 781, 791, 799, 801, 808). Die äußerst aufwändigen Farbtafeln, die das Ende des ersten Bandes zieren, hätten einer quellenkritischen Erläuterung bedurft. Immerhin ist die Erschließung der Dokumente über Inhaltsübersichten sowie Register zu Medien, Sachbegriffen, Institutionen und Organisationen, Orten und Personen durchaus gelungen. Wer in dieser Edition nach etwas Bestimmtem sucht, wird in der Regel auch fündig.

Ihre inhaltlichen Stärken dagegen blitzen nur selten auf, etwa wenn der Nationalsozialismus als eine Alltagskultur präsentiert wird, die sich mittels Fahnen, Wimpeln, Unformen, Abzeichen und Kultgegenständen in das kollektive Gedächtnis einschrieb. Hier beginnen Lesende zu ahnen, wie die NS-Propaganda und ihre Rezipierenden miteinander interagierten. Aus vielen Forschungen zur öffentlichen Meinung nach 1933 ist ja bekannt, wie das NS-Regime (die Seite der Macht) den Geschmack des Publikums erhob (als Synthese Longerich 2006). Um Barthes‘ Behauptung einer Selbstbegrenzung der Macht durch die von ihr selbst geschaffene Ideosphäre belegen zu können, müssen die Kommunikationsverhältnisse im NS-Staat, stärker als bisher, als zirkulär strukturiert gedacht werden. Offenbar band die Entscheidung, auf den Geschmack des Publikums Rücksicht zu nehmen, nach 1933 auch die Entscheidenden. Barthes‘ kybernetisches Bild eines Thermostats, der sich selbst regulierte, könnte für weitere Forschungen sehr hilfreich sein.

Referenzen

Barthes, Roland: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, hg. v. Éric Marty, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2005

ders.: Über mich selbst, Matthes&Seitz: Berlin 2010

Dussel, Konrad: Bilder als Botschaft. Bildstrukturen deutscher Illustrierter 1905-1945 im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Publikum, Herbert von Halem: Köln 2019

Ette, Ottmar: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2002

Garnacz, Joseph: Begeisterte Zuschauer. Die Macht des Kinopublikums in der NS-Diktatur, Herbert von Halem: Köln 2021

Longerich, Peter: „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945, Siedler: München 2006

Lüdtke, Alf: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Westfälisches Dampfboot: Münster 2015

Marßolek, Inge/von Saldern, Adelheid (Hg.): Radio im Nationalsozialismus. Zwischen Lenkung und Ablenkung, edition diskord: Tübingen 1998

Samoyault, Tiphaine: Roland Barthes. Die Biographie, Suhrkamp: Berlin 2015

Schmiechen-Ackermann, Detlef/Buchholz, Marlis/Roitsch, Bianca/Schröder, Christiane (Hg.): Der Ort der ,Volksgemeinschaft‘ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Schöningh: Paderborn 2018

Sösemann, Bernd (Hg.): Propaganda. Medien und Öffentlichkeit in der NS-Diktatur. Eine Dokumentation und Edition von Gesetzen, Führerbefehlen und sonstigen Anordnungen sowie propagandistischen Bild- und Textüberlieferungen im kommunikationshistorischen Kontext und in der Wahrnehmung des Publikums, 2 Bde., Steiner: Stuttgart 2011

Zimmermann, Clemens: Medien im Nationalsozialismus. Deutschland 1933-1945, Italien 1922-1943, Spanien 1936-1951, Böhlau: Köln/Weimar/Wien 2007

scholé, geschichtswissenschaftliche Meditationen, B

Ich sprach in Teil A dieser „Meditationen“ von der Zeit, die die Geschichtsschreibung benötigt, insbesondere in Bezug auf das Denken. In welcher Situation jedoch vollzieht sich individuelles Denken, welche Umstände sind ihm förderlich, welche hemmen es? Jedes geschichtsschreibende Ich wird diese Frage anders beantworten, andere Schwerpunkte setzen, entweder bezogen auf die persönliche Situation (Familie, Liebe und Freundschaft, Krankheit und/oder Gesundheit) oder aber auf die allgemeine gesellschaftliche Lage (das jeweilige politische System des Landes, in dem es lebt, die wirtschaftliche Entwicklung). Mir persönlich war und ist die folgende Passage eine unverzichtbare Inspirationsquelle geworden:

„Ich weiß, daß kein unbezweifelbares Zeichen mir Bestätigung oder Schwächung signalisieren wird. Meine Randständigkeit beweist nichts, sogar mir selbst. Der Vorläufer, wie Canguilhem sagt, ist jener, von dem man erst später weiß, daß er vorher kam. In der Anomie und Abwechslung ist die Avantgarde mit allen niedrigen Formen des Deliriums vermischt … Das Urteil der anderen wird nicht mehr entscheidend sein. Wenn meine Konzeption sich als fruchtbar erweist, kann sie genauso verächtlich gemacht werden oder unverstanden bleiben wie anerkannt oder mit Beifall begrüßt werden. Die Einsamkeit, der ich mich ausgesetzt habe, ist der Preis des Pioniers, aber auch des Verirrten. Ich habe den Kontakt mit jenen verloren, die nicht dieselbe Reise unternommen haben, und ich sehe nicht mehr meine Mitstreiter, die ohne Zweifel existieren, und die ihrerseits auch mich nicht mehr sehen … Schließlich arbeite ich wie an einem Absoluten, an einem relativen und ungewissen Werk … Aber ich weiß besser und besser, daß die einzige Erkenntnis, die sich lohnt, jene ist, die sich von der Ungewißheit nährt, und daß der einzige Gedanke, der lebendig ist, jener ist, der sich bei der Temperatur seiner eigenen Zerstörung erhält“ (Morin 2010: 37).

Es ist die Situation der Einsamkeit, die der französische Philosoph, Wissenschaftstheoretiker und Soziologe Edgar Morin hier als Resultat seiner eigenen Wahl beschreibt, als ein Phänomen, dem er sich selbst ausgesetzt hat. Morin, der, heute, am 8. Juli 2021, seinen hundertsten Geburtstag feiert, hat ein Werk geschaffen, das ein Zentralmassiv inmitten der Wissenschaftstheorie darstellt, und noch immer ist er hoch produktiv, wie sich aus seinem neuesten Buch über das Corona-Virus zeigt, das mit seiner eigenen Lebensgeschichte als einem indirekten Opfer der Spanischen Grippe in den 1920er Jahren beginnt (Morin 2020). In Deutschland ist Morin fast unbekannt; nur wenige seiner Werke sind bislang aus dem Französischen übersetzt worden. In der Wissenschaftstheorie wird er kaum systematisch diskutiert; eine Ausnahme bildet die Soziologie, die seine Analysen allerdings für das gängige Paradigma der Praxistheorie vereinnahmt (Schmalz-Bruns 1989: 222-238; Moebius 2004). Weder von seinen Mitstreitern noch von der akademischen Zunft (nicht nur) im deutschsprachigen Raum gesehen zu werden, dies ist der Preis, den Morin zu zahlen hat, und wenn man seine Werke liest, dann entsteht (jedenfalls bei den wenigen Büchern, die ich von ihm kenne) der Eindruck, dass er dazu nicht ohne Vergnügen bereit ist.

Die Geschichtswissenschaft heute ist der Einsamkeit spinnefeind. Allenthalben bewegen sich Historikerinnen und Historiker innerhalb von Institutionen, Schulen, Paradigmen, gehen auf Konferenzen, tragen Ergebnisse vor. Natürlich kennen sie Phasen der Einsamkeit, in der Regel in der Zeit des Schreibens, sei es an einer Monografie, sei es an Aufsätzen, Vorträgen, Vorlesungen oder ähnlichem, aber selbst dann unterbrechen sie Arbeitsroutinen, stellen vorläufige Ergebnisse zur Diskussion, verschicken Entwürfe einzelner Kapitel an Kolleginnen und Kollegen, stellen ihre Hypothesen in Kolloquien und anlässlich von Konferenzen zur Diskussion. Immer zeigen sie sich eilfertig dazu bereit, auf Nachfrage eigenes Spezialwissen über die Vergangenheit in den Massenmedien preiszugeben und (mehr oder minder direkt) ihre Gegenwart zu kommentieren, neuerdings gerne auch in Echtzeit auf Twitter und anderen Plattformen der so genannten sozialen Netzwerke. „Öffentlichkeit“ ist der Geschichtswissenschaft geradezu eingeschrieben; nur war damit lange Zeit ein fachwissenschaftliches Publikum impliziert, das aufgrund eigenen Wissens und fachlicher Reputation die Reichweite vorgebrachter Analysen beurteilen konnte. Aber heute heißt „veröffentlichen“ weitaus mehr: es heißt, sich an eine allgemeine Öffentlichkeit zu wenden, sich performativ in Szene zu setzen, um die Rezeption zu steuern und präsent zu sein.

Mit „Öffentlichkeit“, so meine These, ist heute nicht mehr nur die Fachwissenschaft gemeint, für die Historikerinnen und Historiker zuallererst schreiben sollten (dieser Sachverhalt wird ja gerne mit dem schönen Wort des „Elfenbeinturms“ der Wissenschaft umschrieben). Stattdessen ist die „Öffentlichkeit“, um die es bei ihren Versuchen der Rezeptionssteuerung geht, primär diejenige des Funktionssystems „Politik“ (Luhmann 2000). Historikerinnen und Historiker wenden sich über die Massenmedien, also Internet, Fernsehen und Radio, an dieses Funktionssystem, um es vermittels seiner Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden zu spezifischen Änderungen in der Gesellschaft zu bewegen. Der Bielefelder Soziologe André Kieserling (2003) bezeichnet diese überbordende, ans Funktionssystem „Politik“ adressierte Kommunikation als „Politismus“. Ein solcher Politismus hat in der deutschen Geschichtswissenschaft Tradition und findet sich im Historismus des 19. Jahrhunderts, in der „kämpfenden Wissenschaft“ der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus und auch in der Historischen Sozialwissenschaft Bielefelder Provenienz (die französische Schule der Annales der 1930er bis 1970er Jahre kannte diese Tradition jedoch offenbar nicht; siehe Jäger/Rüsen 1992).Seither gilt es Historikerinnen und Historikern nicht nur als selbstverständlich, sich politisch zu äußern; mindestens ebenso selbstverständlich erheben sie auch den Anspruch, von der Politik gehört zu werden. Nicht nur in diesem Sachverhalt erweist sich die deutsche Geschichtswissenschaft als integraler Bestandteil der (politischen) Macht; ein Resultat ihrer Institutionalisierung an Universitäten und Akademien im 19. Jahrhundert, in deren Verlauf die Profession des verbeamten Historikers entstand (Raphael 2003: 25-43).

In wessen Namen aber versuchen verbeamtete deutsche Historikerinnen und Historiker öffentlich zu intervenieren? Für wen sprechen sie? Was sind ihre bevorzugten Themen? Welche Motive treiben sie an? Drei hauptsächliche Beweggründe sind zu erkennen: erstens die Berufung auf die „Opfer der Geschichte“, auf marginalisierte Gruppen, die nicht selbst sprechen können oder die niemanden haben, der für sie spricht (zum Konzept Heinrich 2004), um auf diesem Wege einer politischen Anerkennung ihrer Ansprüche den Weg zu bahnen. Zweitens geht es Historikerinnen und Historikern bei ihren öffentlichen Interventionen oftmals auch um die Situation ihres Faches, etwa bei der Frage der Ausgestaltung von Studiengängen und Geschichtsunterricht oder bei der Kritik an prekären Beschäftigungsverhältnissen. Drittens schließlich, und dieser Bereich hat in den letzten Jahren zugenommen, beschwören manche wieder den Machtstaatsgedanken, fordern eine außen- und militärpolitische Normalität, die endlich einkehren müsse, damit „Deutschland“ (was immer das auch ist) wieder diejenige internationale Rolle spielen könne, die ihm aufgrund seiner Wirtschaftsleistung angeblich zukomme. Diese drei Varianten des Politismus adressieren das Funktionssystem „Politik“ im Namen einer wissenschaftlichen Kompetenz und Reputation, und zwar in der Regel über das Funktionssystem „Massenmedien“ (Luhmann 2017). Damit sie Resonanz finden, müssen sie sich also den Logiken von Politik und Massenmedien unterwerfen. Sie hören damit in letzter Konsequenz auf, wissenschaftliche Kommunikationen zu sein.

Die Situation, in die man sich als Historikerin oder Historiker mit der Option für eine dieser drei Varianten des Politismus begibt, ist demzufolge eindeutig: man wechselt vom Funktionssystem „Wissenschaft“ (Luhmann 1990) in die Funktionssysteme „Massenmedien“ und „Politik“ über. In den Massenmedien existieren allerdings bestimmte Auswahlkriterien, denen eine Information genügen muss, um als berichtenswert erachtet zu werden, und die auch die Art und Weise ihrer inhaltlichen Aufarbeitung konditionieren. Dazu zählen der Neuigkeitswert eines Themas, dessen Moralisierungsfähigkeit, die Zurechenbarkeit auf Personen, die Bevorzugung von Konflikten und Gesetz- und Normverstößen. Die Differenz zwischen wahr und unwahr, die die Operationen des „Wissenschaft“ steuert, ist hier nicht von Relevanz. Im Funktionssystem „Politik“ hingegen geht es um agonale Vergesellschaftung, ob nun im Schema Regierung/Opposition, Links/Rechts oder Oben/Unten. Man muss sich einer Gruppe zuordnen, die sich von einer anderen Gruppe abgrenzt. Politik ist insofern immer „identitär“, das heißt, die Gruppenmitglieder unterwerfen ihre Identität jenen Wesensmerkmalen, die für die Gruppe kennzeichnend sind.

Wenn Historikerinnen und Historiker sich über die Massenmedien ans Funktionssystem „Politik“ wenden, entstehen in der Regel zwei Gruppen (die „Neutralen“ lasse ich an dieser Stelle einmal beiseite). Diese Lagerbildung resultiert aber nicht etwa aus den fachwissenschaftlichen Befunden, sondern aus diametral unterschiedlichen politischen Schlussfolgerungen. Nicht die Erkenntnisse (gegenwärtige Vergangenheiten), sondern Erwartungen an die Politik (zukünftige Gegenwarten) konditionieren dann die Gruppenzugehörigkeiten. Es wäre interessant zu untersuchen, inwieweit sich dieser identitäre Politismus bei allzu intensivem Gebrauch auch auf fachwissenschaftliche Erkenntnisse niederschlägt, inwieweit sich also politistische Optionen auf Erkenntnisinteressen und Untersuchungsdesigns historischer Darstellungen auswirken. Solange darüber noch keine Klarheit zu erlangen ist, scheint es mir besser, Morins Imperativ zu befolgen: „Lass‘ das Urteil der anderen nicht mehr entscheidend sein und ertrage deine selbstgewählte Einsamkeit“.

Intertexte

Heinrich, Caroline: Grundriss zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte, Passagen Verlag: Wien 2004

Jaeger, Friedrich/Rüsen, Jörn: Geschichte des Historismus. Eine Einführung, C. H. Beck: München 1992

Kieserling, André: Die Gesellschaft der Politik? Zum Politismus der Moderne, in: Lessenich, Stephan (Hg.): Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Campus: Frankfurt am Main/New York 2003, S. 23-40

Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1990

ders.: Die Politik der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2000

ders.: Die Realität der Massenmedien, 5. Aufl., Springer VS: Wiesbaden 2017 [ursprgl. erschienen im Westdeutschen Verlag: Opladen 1995]

Moebius, Stefan: Bio-Anthropo-Soziologie: Edgar Morin, in: ders./Peter, Lothar (Hg.): Französische Soziologie der Gegenwart, UTB/UVK: Konstanz 2004, S. 237-265

Morin, Edgar: Die Methode. Die Natur der Natur, hg. v. Wolfgang Hofkirchner. Aus dem Französischen übers. u. m. einem Nachw. vers. v. Rainer E. Zimmermann, Turia+Kant: Wien/Berlin 2010 [im frz. Original Paris 1977]

ders. (avec la collaboration de Sabah Abouessalam): Changeons de voie. Les leçons du coronavirus, Denoël: Paris 2020

Raphael, Lutz: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, C. H. Beck: München 2003

Schmalz-Bruns, Rainer: Alltag, Subjektivität, Vernunft. Praxistheorie im Widerstreit, VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden 1989

Hans Mommsen, Memorabile drei

Hans Mommsens Methode bezog sich nicht nur auf die genuin geschichtswissenschaftlichen Operationen (Heuristik, Kritik und Interpretation) im engeren Sinne, sondern auch auf einen Bereich, den Johann Gustav Droysen (1974: 359-366) seinerzeit als Topik bezeichnet hatte. Es ging Hans Mommsen also auch um die Form der Darlegung, die man heute als „Schreibweise“ oder „Stil“ (oder beides) bezeichnen würde, und um eine spezifische Sprache. Der Ort, an dem ich diese Facette von ihm lernte, war das Doktorandenkolloquium, das im Semester in der Regel alle zwei Wochen mittwochs bei Hans Mommsen zu Hause stattfand, um 20 Uhr begann und in ein offenes Ende mit Gesprächen und Getränken überging. In meiner Zeit am Lehrstuhl war ich immer auch direkt in die konzeptionelle Planung des Kolloquiums involviert. Hans Mommsen sprach mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern regelmäßig darüber, wen man einladen könnte, wer gerade an interessanten empirischen Arbeiten über den Nationalsozialismus saß. Das Prius hatten natürlich seine eigenen Doktoranden, die regelmäßig zum Rapport gebeten wurden (auch die Mitarbeiter des VW-Projekts; siehe Mommsen/Grieger 1996), dann auch andere Lehrstuhlinhaber und -assistenten, die an der Ruhr-Universität Bochum beziehungsweise den geisteswissenschaftlichen Fakultäten tätig waren. Viele der Gastreferenten schlug Hans Mommsen selbst vor, sei es, dass er sie kannte, sei es, dass sie gerade für ein Semester in Deutschland weilten oder aber aus seinem persönlichen Freundes- und Bekanntenkreis stammten.

Wenn Hans Mommsen dann eine Auswahl an Referentinnen und Referenten getroffen hatte, oblagen die technisch-administrativen Details (Terminplanung, Einladung, Hotelbuchung, Abholung am Bahnhof etc.) dann dem Lehrstuhlassistenten; in der Zeit, als ich diesen vertrat, also im Wesentlichen mir und meiner Kollegin. Hans Mommsen ließ es sich aber (vor allen Dingen bei internationalen Gästen) nicht nehmen, den Nachmittag und frühen Abend persönlich für Spaziergänge, Essen etc. zur Verfügung zu stehen. Abrechnung der Reisekosten und alles, was im Nachgang eines solchen Vortrages anlag, übernahmen wieder wir. Mindestens genauso wichtig wie die inhaltlichen Aspekte des Doktorandenkolloquiums waren die persönlichen. Hier lernte man wichtige NS-Forscherinnen und Forscher kennen, konnte sich in ungezwungener Atmosphäre mit ihnen austauschen und stieß mit Hans Mommsen auf einen liebevollen Gastgeber, der allen Teilnehmer die Wünsche von den Augen ablas. In der Sache freilich argumentierte er mitunter auch gegenüber seinen Gästen sehr hart, wenn nicht gar schroff. Wenn ihn irgendetwas störte, wenn er irgendetwas anders sah, dann ging es immer ums Ganze. Ich erinnere mich vor allen Dingen an methodische Fragen, etwa zu den in den 1990er Jahren gerade erst im Aufschwung befindlichen Kulturgeschichte, deren Verfechter Hans Mommsen regelrecht grillte, weil er von ihren Ansätzen wenig bis gar nichts hielt. Seine Frage war dann immer (natürlich rhetorisch gemeint): „Was bringt uns das?“ oder „Worin liegt der Mehrwert dieses Ansatzes?“. Auch ich hatte einmal das Vergnügen, seiner Kritik ausgesetzt zu sein. Im Doktorandenkolloquium vom 13. Dezember 1995 gab ich folgenden Arbeitsbericht zu meiner Dissertationsplanung:

Arbeitsbericht im Doktorandenkolloquium von Prof. Dr. Hans Mommsen

am 13.12.1995 (Armin Nolzen)

Thema: Rudolf Heß, Martin Bormann und die Reform der NSDAP, 1933-1945

I. FRAGESTELLUNG UND FORSCHUNGSSTAND

Allgemeine Frage: Struktur- und Funktionswandel der NSDAP in der Systemphase

Konkret: Zielvorstellungen der Dienststelle des Stellvertreters des Führers [StdF], später Partei-Kanzlei [PK], also vor allem Heß’ und Bormanns, was a) Zusammenspiel der einzelnen Parteibehörden untereinander und b) Verhältnis der regionalen Parteiorganisation zur deutschen Bevölkerung angeht

Ziellinie: Grad der Durchsetzung ihrer jeweiligen politischen Positionen (inner- und außerparteilich) soll im chronologischen Geschichtsverlauf bestimmt werden 

Mit NSDAP meine ich:

1) Reichsleitungs-Dienststellen;

2) territoriale Parteiorganisation (bis 1935/36 Politische Organisation [P.O.]) = Gaue, Kreise, Ortsgruppen, Zellen und Blocks;

3) Gliederungen = z.B. SS, SA, HJ, BdM, NSFK, NSKK (ohne eigene Rechtspersönlichkeit; Finanzierungs- und Revisionsrecht durch RSchM);

4) Angeschlossene Verbände [AV] = z.B. NSV, DAF, NSF, NSLB, RDB (mit eigener Rechtspersönlichkeit; teilweise aber Revisionsrecht des Reichsschatzmeisters auf Wunsch der AV = DAF, NSV);

Quellengrundlage: IfZ-Edition der Akten der Partei-Kanzlei, in der alle Heß und Bormann betreffenden Provenienzen zentraler staatlicher Behörden rekonstruiert sind (ca. 200.000 Blatt); die im Bundesarchiv und seinen Außenstellen lagernden Akten von Parteibehörden aller Art; regionale und lokale Akten (mit Schwerpunkt Nordrhein-Westfalen und Ruhrgebietsstädte), Akten der NSDAP in den besetzten Gebieten (Wien = „Ostmark“; Litomerice = Sudetengau, Prag = Reichsprotektorat; Amsterdam = Arbeitsbereich Niederlande; Danzig, Warschau, Posen und Oppeln = NSDAP in Polen); Berichtssammlungen wie Heinz Boberachs „Meldungen aus dem Reich“; Tagebücher und Memoiren bzw. Briefsammlungen;

Literaturgrundlage: Orlow, History of the Nazi Party; 2 Bde. 1969-1973; Longerich 1992; Rebentisch, Führerstaat; Grill (Baden); Botz (Wien und Anschluß); Karner (Steiermark); Hanisch (Salzburg); Walzl (Kärnten); Broszat u.a. (Bayern-Projekt); DÖW-Projekt zu Widerstand und Verfolgung in den verschiedenen österreichischen Ländern; Mallmann/Paul (Saarland); Kater 1983 (Sozialstruktur); Kratzsch (Gauwirtschaftsberater); Ruppert a.a.O. (Kreisleiter in Lippe); Unger (Vergleich mit der stalinistischen UdSSR); Literatur zu Gliederungen und AV; sonstige relevante Darstellungen;

Bemerkungen zur Forschungslage: NSDAP an der Spitze gut untersucht, jedoch starre Entgegensetzung Partei-Staat (Teppe/Rebentisch = Verwaltung contra Menschenführung); Tendenz zur isolierten organisationsgeschichtlichen Betrachtung einzelner Parteibehörden (Felten = NSLB); Betonung der Kompetenzkonflikte, stark personalistischer Zugriff auf einzelne Reichs-, Gau- und Kreisleiter; Parteiherrschaft in den Regionen und Kommunen bislang nicht einmal ansatzweise untersucht; generell: Verengung auf die Durchsetzung ideologischer und propagandistischer Zielvorstellungen (Martin Broszat schreibt „Selektion der negativen Weltanschauungselemente“ primär NSDAP zu); 

eigenes Programm: Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen alltäglicher bürokratischer Routine und Ideologie anhand der Dienststelle StdF/PK (wo werden selbstgeschaffene, vermutete oder reale Sachzwänge handlungsleitend, wo Weltanschauung?); Parteigeschichte als offener Prozeß darzustellen, der durch unterschiedliche interne und externe Faktoren gelenkt und verändert wird; Anteil der NSDAP an der „kumulativen Radikalisierung“ (Hans Mommsen) des Regimes bestimmen.

II. EINSTIEGSHYPOTHESEN

ursprüngliche Funktion der NSDAP = Wahlwerbeorganisation.

1. Zäsur: 1933/34 = Wandel der NSDAP zum Instrument der totalen Erfassung der Gesellschaft;

2. Zäsur: 1938/39 = Eintritt der NSDAP in die Volkstumspolitik (gemeint ist vor allem die Durchführung der Germanisierung im Sudetenland, in Danzig-Westpreußen, im Warthegau, in Elsass, in Lothringen und in Luxemburg durch die Kreis- und Ortsgruppenstäbe);

3. Zäsur: 1942/43 = Eintritt der NSDAP in die Kommunalpolitik (gemeint ist vor allem die sukzessive Heranziehung der Partei zur Soforthilfe im Bombenkrieg);

4. Zäsur: 1944/45 = Eintritt der NSDAP in die Militärpolitik (gemeint sind vor allem die Fanatisierung der Wehrmacht durch „Schulung“ und Indoktrination z. B. durch Nationalsozialistische Führungsoffiziere [NSFO] sowie faktische Übernahme der Reichsverteidigung durch die vollziehende Gewalt der Gauleiter als Reichsverteidigungskommissare [RVK] im Operationsgebiet und den Deutschen Volkssturm.

ursprüngliche Struktur der NSDAP = zentrale Parteiführung durch Reichsorganisationsleitung [ROL] Gregor Straßers, getrennt davon existierten Reichsschatzmeister, -propagandaleitung und -geschäftsführung sowie Untersuchungs- und Schlichtungsausschuß, SA, SS und HJ (in Straßers Kompetenzbereich fiel die Auswahl der Gauleiter und Reichstagskandidaten, die Kontrolle der Gauleiter durch Reichs- und Landesinspektionen und die Leitung aller späteren Gliederungen und AV mittels der Hauptabteilungen).

1. Zäsur: 1933/34 = Aufbau des Ortsgruppen-, Zellen- und Blocksystems von NSDAP, DAF, NSF und NSV; Zerfall der NSDAP in P.O., Gliederungen und AV; Aufblähung der Reichsleitung;

2. Zäsur: 1938/39 = Dienststelle des Stellvertreters des Führers wird zum alleinigen politischen Lenkungsorgan in der NSDAP;

3. Zäsur: 1942/43 = sukzessive Einbindung der Gau- und Kreisstäbe in die staatlichen Tätigkeitsgebiete ihrer Hoheitsträger;

4. Zäsur: 1944/45 = Koordinierung der Arbeit der Gliederungen und AV durch die Stäbe der Hoheitsträger.

Fragestellung = Wie kam es zu diesen Veränderungen in der Systemphase und welchen Anteil hatten Heß und Bormann daran?

III. EMPIRISCHER TEIL

Ad Zäsur 1) Bormann: „Denkschrift betreffend Einrichtung und Stellung von Reichsluftsportkorps und Staatsjugend“ (22.4.1936) = BAB NS 10/53: „So umstritten die praktische Mitarbeit der Partei vonseiten vieler Beamter des Staates nun aber auch sein mag, so unbestritten sollte der Partei wenigstens ein Recht bezw. eine Aufgabe sein: Nämlich die politische Erziehung und die laufende politische Führung des deutschen Volkes. Es sollte klar sein, dass diese Aufgabe durch den Staat, d. h. durch die Beamtenschaft des Staates garnicht übernommen werden kann, sondern tatsächlich nur von der NSDAP., von der nationalsozialistischen Bewegung. Denn das, was diesen Menschen eingeimpft werden soll, muss der Staat selbst erst von der NSDAP. her erhalten; seine Impulse, seine motorische Kraft, die grundlegenden Ideen für alle Gesetze und Verordnungen des Staates gehen von der NSDAP. aus oder richten sich wenigstens nach deren Anschauungen“.

Aufbau des Ortsgruppen-, Zellen- und Blocksystems durch Hauptorganisationsamt der ROL (Fritz Mehnert) sowie DAF, NSV und NSF koordiniert; Besetzung mit „Märzgefallenen“; oftmalige weltanschauliche Revision und Schulung; Funktionärsfluktuation auf den unteren Ebenen 1933/34 über 50 Prozent; Dienststelle StdF im Aufbau begriffen; nahm dem Hauptpersonalamt personalpolitische Zuständigkeit für Politische Leiter [PL] der Gau- und Kreisstäbe ab; von NSDAP-Dienststellen alleiniges Beteiligungsrecht an staatlicher Gesetzgebung; Entwicklung innerparteilicher Laufbahnkriterien für Funktionäre vom untersten PL bis zum Gauleiter; Überwachung der Parteiorganisation durch ausgeklügeltes Berichts- und Informationswesen; Beauftragte der Parteileitung als parteiinternes Konfliktaustragungsinstrument.

Ad Zäsur 2) Heß an Lammers (25.10.1939), in: BAB R 43 II/646a, Bl. 59: „Der Absatz 2 des § 3 des Erlasses des Führers vom 8. Oktober 1939 über die Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete ist allerdings auf meinen Vorschlag aufgenommen worden. Mir war bekannt, dass der Führer für die erste Zeit eine besonders scharfe Zusammenfassung der Verwaltung in den neuen Reichsgauen wünschte. Der Reichsinnenminister ist meiner Auffassung beigetreten […]. Ebenso können die bevölkerungspolitischen Zuständigkeiten, die die Finanzämter im Altreich haben, Ehestandsdarlehen, Kinderbeihilfen, Erziehungsbeihilfen und ähnliche Dinge in den Ostgebieten nicht den Finanzämtern überlassen bleiben. Die wichtigste Aufgabe der Siedlung und mit ihr zusammenhängend die Bevölkerungspolitik kann in den Ostgebieten nur von einer Stelle und nur einheitlich gemacht werden“. 

Der Parteiaufbau in den besetzten Gebieten geschah von oben (Gauleitung oder ähnliches) nach unten; Ortsgruppen wurden teils gar nicht, teils mit mangelhafter Besetzung und Ausstattung gegründet; Personalunionen als Mittel der politischen Einflussnahme für NSDAP unbrauchbar, weil die Amtsinhaber sich nur der staatlichen Verwaltungszweige bedienten; Heranziehung von „Volksdeutschen“ zur Mitarbeit in der NSDAP (entweder Direktaufnahme in Gliederungen und AV oder Umweg über „Volksdeutsche Bewegung“ als Kollaborationspartei zur NSDAP); Tätigkeit der NSDAP erstreckte sich größtenteils auf „Schulung“ und Erziehung der „Volksdeutschen“; Sonderfall Österreich = zentralisierter Parteiaufbau durch Personalunion der fachlichen Sachbearbeiter der P.O. und der Gliederungen und AV (beispielsweise waren Mitarbeiter des Kreisamtsleiters für die DAF für die Führung der gesamten DAF-Organisation im Kreis zuständig); Dienststelle StdF erreichte zentrale personalpolitische Kompetenz bei Besetzung der PL-Posten in den besetzten Gebieten (Gau- und Kreisleiter, Kommandierungen); Steuerung des Parteiaufbaus nur in der „Ostmark“ versucht; Engagement bei der Einführung von Reichsrecht in den Reichsgauen („scharfe Zusammenfassung“ in der Mittelinstanz von Heß und Bormann im Zusammenspiel mit Reichsministerium des Innern gegen Ressortwiderstände bei Hitler durchgepaukt; Verschärfung der Kirchen- und Schulpolitik), keine innerparteilichen Interventionen der Dienststelle StdF/PK in die materielle Besatzungspolitik der NSDAP (Dezentralisierung); Bormann versuchte seit 1941/42, eine Funktionsteilung zwischen NSDAP und SS zu erreichen (Himmler als Beauftragter der NSDAP für Volkstumsfragen). 

Ad Zäsur 3) Bormann: „Aktenvermerk für Pg. Friedrichs und Pg. Dr. Klopfer“ (14.4.1942), in: BAB NS 6/ 318, Bl. 141: „Seit geraumer Zeit beobachte ich mit wirklich größter Sorge eine Entwicklung, die der Partei unbedingt zum Verhängnis werden muss, wenn ihre Gefährlichkeit nicht rechtzeitig allgemein erkannt wird: die Übernahme immer weiterer Aufgaben durch Parteistellen bzw. Männer der Partei […]. Es wird aber immer deutlicher, dass – wie der Führer schon vor Jahren betonte – automatisch bei Übernahme zu vieler und ungeeigneter Aufgaben die ganze Dynamik der Partei flöten geht und flöten gehen muss! Die Männer der Partei werden schon jetzt vielfach geradezu erdrückt von Tagesaufgaben, von Büroarbeit, von Dingen die mit Politik und Menschenführung nicht entfernt, geschweige denn unmittelbar etwas zu tun haben […]. Vereinigung von Partei- und Staatsämtern bedeutet das Ende der Partei! Die Partei verschwindet, die Führung des Staates liegt wieder bei der Beamtenschaft […]. Spätestens nach dem Kriege müssen Aufgaben, die nicht tatsächlich zum Aufgabenbereich der Partei gehören, wieder abgestossen werden“.

Gauleiter wurden RVK, Vertreter des Reichskommissars für den sozialen Wohnungsbau und Vertreter des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz; Gau- und Kreiswirtschaftsberater sowie Gau- und Kreisamtsleiter der DAF, nicht zuletzt nach Hitlers Erlass vom 13. Januar 1943, wurden in die „Auskämmung“ der Betriebe eingebunden und für Arbeitseinsatz und Behelfswohnungsbau zuständig; Gau- und Kreisamtsleiter von NSV und NSF für materielle Soforthilfe, Kinderland- und Heilverschickungen verantwortlich; Bildung gemischter Gremien (Partei und Staat) zur Brand- und Schadensbekämpfung nach Bombenangriffen (Stellvertretende Gauleiter und Gau- bzw. Kreisstabsamtsleiter als Koordinatoren); PK betreibt Umbau der Gau- und Kreisstäbe, wodurch die Kompetenzen der Reichsleitungs-Dienststellen verringert werden (administrative und personalpolitische Dezentralisierung, Einsetzung hauptamtlicher Parteifunktionäre) und politische Aktivierung der Ortsgruppen, die mehr und mehr als Kirche agieren (Parteibegräbnisse, Kondolenzbesuche und Hinterbliebenenfürsorge) und in die Propaganda eingespannt werden (Sprech- und Familienabende, General-Mitgliederappelle und Propagandamärsche), Ziel war Verhinderung einer Wiederkehr des „Dolchstoßes vom 9. November 1918“ (Italienkrise vom Juni 1943 als radikalisierendes Element); die „Kampfzeit“ wurde in der Propaganda zum Erfolgsmodell stilisiert. 

Ad Zäsur 4) Bormann: R 123/44 (geheime Reichssache) betreffend den Einsatz der NSDAP im Invasionsfall (31.5.1944), in: BAB NS 6/350: „Die Anglo-Amerikaner sind sich darüber im klaren, daß die angekündigte Invasion nur beim Einsatz stärkster Kräfte und bei Anwendung aller Mittel durchgeführt werden kann. Mit der Absetzung von Luftlandetruppen und Sabotage-Kommandos, mit Aufständen fremdländischer Arbeiter, intensiver Propaganda und mit einer Verstärkung des Luft- und Nervenkrieges auch innerhalb des Reiches muß gerechnet werden. Selbst die bisher vom Luftkrieg unberührten Gaue werden sich daher auf den Invasionsfall einstellen müssen. Das ganze deutsche Volk – insbesondere aber die Partei – muß auf diese Belastungsprobe ideell und materiell vorbereitet sein und im gegebenen Augenblick durch Konzentration aller Kräfte mithelfen, die Pläne des Gegners zu zerschlagen. In dem reibungslosen Zusammenspiel aller deutschen Abwehrkräfte, in der Beseitigung aller Zuständigkeitskonflikte liegt die Gewähr für schnelles, wirkungsvolles Handeln und damit für den Erfolg“. 

Fanatisierung der deutschen Wehrmacht durch NSFO; radikalisierende Funktion des Attentats vom 20. Juli 1944; Notdienstverpflichtung der Bevölkerung zu Heimatflak, Stellungsbau und Luftschutzwache; erzwungener Wechsel von vorsorglichen Evakuierungen zu Totalräumungen; Überprüfung der uk-Stellungen in Wirtschaft und Rüstung durch Gau- und Kreiskommissionen; administrative Dezentralisierung jetzt auch auf Reichsebene (Orts- und Kreisdreiecke, Stärkung der „germanischen Selbstverwaltung“ durch Himmler als Reichsminister des Innern; PK: Konzentration der Schulung der Wehrmacht und der Koordinierung des Deutschen Volkssturms in Abteilungen II W und II F (Beteiligung aller mit diesem Aufgabengebiet betrauten Reichsleitungs-Dienststellen, Gliederungen und AV unter dem Dach der PK), Erlass Hitlers über RVK im Operationsgebiet wurde durch PK abgeändert und die GL erhielten vollziehende Gewalt, SA, NSKK und Reichsluftschutzbund an politische Weisungen der „Hoheitsträger“ gebunden, plebiszitäre Scheinpartizipation durch totalen Kriegseinsatz (Bevölkerung machte Vereinfachungsvorschläge gegenüber Parteibehörden); Totalmobilisierung der Bevölkerung durch Deutschen Volkssturm (Bormann setzte auf militärische Wirksamkeit der levée en masse); Entwicklung der Durchhaltekonzeption nach dem 30. Januar 1945 (vor „Fall Greiser“ Option Bormanns für kleinschrittige Evakuierungen); Krisenmanagement durch PK-Mitarbeiter („Sondereinsatz der Partei-Kanzlei“); Primat organisatorischer Vereinfachungen innerhalb der NSDAP (Heinrich Walkenhorsts Reichsleiter-Nachfolgeliste); Bormanns Tod in Berlin (kein Weiterleben der Partei in Regierung Dönitz geplant).

IV. SCHLUSSHYPOTHESEN

zwei Tendenzen = wachsende inner- und außerparteiliche Durchschlagskraft der Dienststelle StdF/PK; Expansion inhaltlich-materieller Steuerungsversuche;

1) durch Dienststelle StdF/PK – nach usurpatorischer Kompetenzanmaßung der Partei in der Phase der Machtergreifung – zusammen mit Ministerialbürokratie, Organisationen der Wirtschaft und Wehrmacht funktionsteiliger Einbau der NSDAP in deren Kompetenzbereiche;

2) durch Dienststelle StdF/PK administrative und personalpolitische Steuerung der NSDAP;

3) durch Dienststelle StdF/PK bewußt forcierter innerparteilicher Konzentrationsprozess nach dem Prinzip der „Einheit der Verwaltung“ als Vorgriff auf eine „Reichsgauverfassung“ nach dem Kriege;

4) durch Dienststelle StdF/PK und NSDAP erfolgreiche Ruhigstellung der deutschen Bevölkerung durch Organisierung und Indienstnahme. 

Natürlich wäre es nach fast einem Vierteljahrhundert vermessen, die anschließende Diskussion über meine Thesen aus dem Gedächtnis rekonstruieren zu können; ich erinnere mich an rein gar nichts mehr, weder daran, wer anwesend war, noch an Details, über die geredet wurde. Woran ich mich aber erinnere, ist Hans Mommsens Haupteinwand (ich stelle mir vor, dass er ihn bereits an diesem Abend in seinem Kolloquium vorbrachte), der sich direkt gegen meine Herangehensweise an das Thema „NSDAP“ richtete. „Halten sie sich von allen nachträglichen Rationalisierungen fern! Sie haben eine Tendenz, zu viel Sinn in die Sache hineinzulegen“. Ich habe lange gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass darin eine epistemologische Grundforderung lag, die Hans Mommsen an die Analyse des Nationalsozialismus herantrug, In einem Interview mit Sabine Moller von 1998 formulierte er diese Position wie folgt: „Eine weitere historiographische Tendenz, die sich vornehmlich bei Historikern der jüngeren Generation findet, besteht in dem Bestreben, zu einer begrenzten historischen Sinnstiftung zurückzukehren. Übertragen auf die Geschichte des NS-Systems bezieht sich das darauf, die Funktion der Ideologie wieder in den Mittelpunkt zu rücken. So betont Ulrich Herbert in seiner Biographie von Werner Best, die zu den grundlegenden neueren Publikationen in diesem Bereich zu rechnen ist, daß die SS-Führungsgruppe einheitliche politische Zielvorstellungen ausgebildet habe, die, wenn nicht eine in sich geschlossene Ideologie, so doch eine tragende Mentalität ausgebildet habe“ (Mommsen 1999: 79).

Hans Mommsens Kritik bezog sich also hier auf etwas, das man als „Rationalisierung durch Ideologie“ oder „Rationalisierung durch Unterstellung eines direkten Konnexes zwischen ideologischem Denken und praktischem Handeln“ nennen kann. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass er sie anhand von Ulrich Herberts (1996) Biografie über Werner Best vorbrachte, zu der er selbst ein überlanges und kritisches Habilitationsgutachten verfasst hatte, das ich seinerzeit an einem Nachmittag, der nicht mehr zu meiner Arbeitszeit gehörte, Korrektur lesen musste (was mir aber nichtsdestotrotz eine Freude war). Hans Mommsen wollte solchen Rationalisierungen (Sinnstiftungen) eine Kombination aus narrativen und analytischen Elementen entgegensetzen. Er wollte einen Prozess analysieren, den er als systemisch-politischen verstand, als Interaktion zwischen politischen Machtträgern, deren Mittelpunkt ein spezifisches Entscheidungshandeln bildete. Beziehungen politischer Machtträger innerhalb eines spezifischen Entscheidungsprozesses, das war sein Erkenntnisinteresse. Nun schließt das nicht aus, auch nach der Funktion der Ideologie zu fragen, und exakt das war ja auch Herberts Programm in seiner Best-Biografie. Ich habe seinerzeit daher auch erst gar nicht verstanden, worüber sich Hans Mommsen hier echauffierte, worauf sich seine Kritik eigentlich bezog.

Heute, fast 25 Jahre später, ist mir das um Einiges klarer geworden. Hans Mommsen wandte sich hier gegen Analysen ad personam, gegen Biografien (oder auch gegen Kollektivbiografien), weil er sie als grundlegend defizitär im Hinblick auf eine Erklärung des Nationalsozialismus verstand. Dem setzte er Prozesse entgegen, sich wandelnde Strukturen und die Interaktionen zwischen den Handelnden an der Spitze des NS-Regimes. Es ging sozusagen um eine Überschreitung des Horizontes zeitgenössischer Handelnder und um eine sprachlich-semantische Distanzierung von deren eigener empathischer Binnenlogik. Und dies geschah bei ihm in einem stark moralisch aufgeladenen, negativ konnotierten Sprachregister. Einige Beispiel aus einem einzigen Aufsatz (Mommsen 1996): „eher reaktiv, durch flexible Anpassung und Imitation dominanter Tendenzen bestimmt“, „frühzeitig einsetzende Realitätsverweigerung“, „entzogen sich zugleich jeder koordinierenden Kontrolle“, „selbstherrliches Vorgehen seiner Satrapen“, „System ungeregelter Willkür“, „schwächliche Ansätze“, „mutwillige, zunächst ausschließlich propagandistisch motivierte Beschwörung von Ausgrenzungs- und Vernichtungsparolen“, „primär visionärer Charakter“, „Verlust an Realitätswahrnehmung und Selbstkritik“, „pseudomoralische Rechtfertigung“, „Schaffung von Unausweichlichkeiten“, „die auf durchaus irrationalen Prämissen aufbaute“, „Übergang zu sinnloser Massenvernichtung“, „hypertrophe Ziele“, „atavistische Elemente“, „zynische Menschenverachtung und Geringschätzung“, „Gewöhnung an moralische Indifferenz“, „klägliche Selbstausschaltung“, „Zerfall der Gesellschaft und des politischen Systems“, „diese Nicht-Struktur, diese tumorhafte Veränderung bestehender politischer Gebilde“, „Nihilismus des reinen Mordens“, „sklavisch-selbstläuferische Vollstreckungsmaschinerie“, „destruktiv“, „parasitenhaft“ und so weiter.

Diese Sprache ist suggestiv-apodiktisch und metaphorisch, alles andere als kalt, sie ist in einem eigenartigen Sinne poetisch. Der dominante Gebrauch von Negationen und Adjektive, die Verwendung von Ellipsen, ein weit verbreiteter Nominal- und Verbalstil, Wiederholungen, Aufzählungen, Signal- und Schlüsselwörter, Nebeneinanderstellung nicht zusammengehöriger Ausrücke, Lautmalereien und vieles andere dienen offenbar nur einem Zweck: der bewussten Zerschreibung einer erzählenden Prosa, die in den Geschichtswissenschaften ja zwangsläufig immer nah an der Sprache der jeweiligen Zeitgenossen ist, die man untersucht. Heute glaube ich zu wissen, was Hans Mommsen mir mit der Kritik an Sinnstiftung und Rationalisierung auf den Weg geben wollte: Gestalte deine Sprache so, dass sie diejenige der Quellen zu unterlaufen in der Lage ist! Finde eine sprachliche Form, die größtmögliche Distanz zum historischen Phänomen „Nationalsozialismus“ schafft!

Es ging ihm um eine Revolution der geschichtswissenschaftlichen Sprache.

Referenzen

Droysen, Johann Gustav: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. v. Rudolf Hübner, Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1974 (ursprgl. Oldenbourg: München 1937)

Herbert, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, 3. Aufl., Dietz: Bonn 1996

Mommsen, Hans/Grieger, Manfred: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Econ: Düsseldorf 1996

Mommsen, Hans: Modernität und Barbarei. Anmerkungen aus zeithistorischer Sicht, in: Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts, hg. v. Max Miller und Hans-Georg Soeffner, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1996, S. 137-155

ders.: „Es geht mir darum, einen Prozeß zu erklären und nicht in moralischer Empörung steckenzubleiben“. Interview mit Hans Mommsen. Geführt von Sabine Moller, in: Welzer, Harald (Hg.): Auf den Trümmern der Geschichte. Gespräche mit Raul Hilberg, Hans Mommsen und Zygmunt Bauman, edition diskord: Tübingen 1999, S. 49-90

dritte Zwischenbetrachtung

Ich habe eine Krankheit – ich sehe den Nationalsozialismus. Ich sehe ihn, wie Friedrich Engels in jeder Sekunde seines Lebens die Revolution; ich sehe ihn wie Paul Valéry die Sprache, wenn er ein Sonett las; ich sehe ihn, wie Ludwig Boltzmann den Tanz der Moleküle, wenn ein Glas Wasser vor ihm stand; ich sehe ihn wie Aby Warburg die Antike in der florentinischen Kultur des 15. Jahrhunderts, und ich sehe ihn wie Edith Stein die Wahrheit in der Mystik der Teresa von Ávila und des Johannes vom Kreuz. Ich sehe den vergangenen Nationalsozialismus, und zwar in Wort, Bild und Ton (kann man Töne sehen?), und ich sehe den Nationalsozialismus als integralen Bestandteil der aktuellen Kultur

►in der allenthalben grassierenden Aktivitätssucht (und der Geringschätzung alles Kontemplativen);

►im weit verbreiteten Sehnen nach Einheit und Übersichtlichkeit (und der Ablehnung von Differenz und Komplexität);

►in der ständigen Suche nach Identität und Authentizität (und der Verächtlichmachung alles Schwankenden und Künstlichen);

►im ubiquitären Selbstdarstellungstrieb und notorischen Bekenntniszwang (bei gleichzeitiger Tabuisierung von Schüchternheit und Demut);

►im permanenten Bekämpfen des Faschismus der anderen (bei gleichzeitiger Indifferenz gegenüber dem eigenen Faschismus);

►in der Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft (bei gleichzeitiger Stigmatisierung des Privaten);

►in der emotionalen Verausgabung (und der fehlenden Selbstkontrolle);

►in der Realitätsverdoppelung grassierender Verschwörungsnarrationen (bei gleichzeitiger Abwendung von allem genuin Religiösen);

►in der Hinwendung zum Konkreten (und der Austreibung von Abstraktionen).

Es besteht allerdings ein Unterschied zwischen meinem Sehen des Nationalsozialismus als Vergangenheit und als Bestandteil heutiger Kultur: den vergangenen Nationalsozialismus sehe ich in Schwarz-Weiß, den aktuellen in Farbe. Ich versuche daher eine Art Überblendung. Wie wäre es eigentlich, auch den vergangenen Nationalsozialismus in Farbe zu sehen? Könnte man ihn geschichtswissenschaftlich in Farbe interpretieren? „Farbe“ ist in diesem Zusammenhang zunächst einmal eine Metapher für eine andere Art der Wahrnehmung und eine andere Art der Beschreibung. Ich will den Nationalsozialismus anders sehen lernen, und ich will ihn anders beschreiben. Den vergangenen Nationalsozialismus in Farbe darzustellen heißt, sich von bisherigen Gepflogenheiten zu verabschieden: von der Mimesis der schriftlichen Dokumente, mit der man sich ihm gemeinhin nähert und die größtenteils alle von ihm selbst produziert sind. Und man muss sich von der Mimesis seiner Bilder distanzieren, deren Kosmos die Nachgeborenen bis heute prägt. Was wir vom Nationalsozialismus wissen, wissen wir aus nationalsozialistischen Medien; lediglich die Erforschung der Geschichte seiner Opfer (gibt es eigentlich schon eine historische Viktimologie?) bildet eine Ausnahme.

Wie also den Nationalsozialismus in Farbe sehen und beschreiben lernen? Natürlich durch eine besondere Schreibweise, eine spezifische skripturale Praxis, seit Johann Gustav Droysen in der Geschichtstheorie unter dem Begriff der „Topik“ diskutiert. Es geht darum, die traditionellen Schreibweisen zu verändern, Restriktionen aufzuheben und das gesamte Register der Sprache(n), in denen man schreiben kann, auszuschöpfen. Dabei gibt es drei Problembereiche: Objekt-, Meta- und Beobachtersprache. Erstens das Problem Objektsprache: Die Texte der Geschichtsschreibung stehen meist in der dritten Person und sind an der Objektsprache orientiert. Quellenfetischismus, naiver Realismus und Rückzug der Schreibenden aus der Verantwortung für ihren Text stellen die wesentlichen Kennzeichen des historiografischen Diskurses dar. Deshalb ist der Wechsel von der Er- zur Ich-Perspektive vonnöten. Es schreibt ein „Ich“, das von einer ersten Differenz ausgeht; der Differenz Ich/Andere. Die Anderen, das können historische Akteure sein, aber auch andere Historikerinnen und Historiker (die Unterscheidung Ich/Andere ist eine, die auf der Seite des „Ich“ wiedereintrittsfähig ist).

Zweitens das Problem Metasprache: In den Geschichtswissenschaften gibt es keine Metasprache, sondern das jeweilige Thema wird in einer Art Mischung aus Objektsprache (der Sprache der Zeitgenossen) und Beobachtersprache (der Sprache der Historikerin/des Historikers) behandelt. Warum nicht durchgängig eine Metasprache verwenden? Kandidaten dafür sind: Systemtheorie, Praxeologie, Poststrukturalismus, Cultural Studies, Semiotik, Psychoanalyse, ANT, Postcolonial Studies. Metasprachen können die Objektsprache überlagern, sie sozusagen annullieren, und sie können die Beobachtersprache erweitern. Sie gehen in der Regel mit Theorieverwendung einher (erschöpfen sich aber nicht darin). Reflexionen über Metasprachen sind zu unterlassen (weil alle vom erkenntnistheoretischen Aspekt untereinander gleichrangig sind).

Drittens das Problem Beobachtersprache: Sie muss literarisiert, revolutioniert werden. Metaphern und Bilder; suggestive Adjektive; Appositionen und Klammersetzungen und -zusätze (die dem eigentlichen Inhalt zuwiderlaufen); Dialogisierung (kann man den Nationalsozialismus in einem geschichtswissenschaftlichen Text in Dialogform bringen?); Wechsel zwischen Präsens, Präteritum und Futur II; Ellipsen; Schlüsselwörter; abrupte Brüche; Aufzählungen; Verwendung verschiedener Spracheebenen (Umgangssprache etc.); Wiederholungen; Nebeneinanderstellung sich widersprechender, nicht zusammengehöriger Ausdrücke; Rhythmuswechsel; Leerstellen; Nominal- und Verbalstil; Parataxen; veränderte Interpunktion …

Aber welche Sprache wählen? Vielleicht Virginia Woolf, Die Wellen; Uwe Johnson, Jahrestage; Elsa Morante, La Storia; Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel; Ingeborg Bachmann, Malina; Julio Cortázar, Rayuela; Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands; William H. Gass, Der Tunnel; Roberto Bolaño, 2666; Olga Tokarczuk, Die Jakobsbücher; möglicherweise auch Némirovsky; Kafka; Brecht; Döblin; Musil; Broch; dos Passos; de Beauvoir; Borges; Seghers; Camus; Grossmann; Bernhard; Plath; Nadas; Cǎtǎrescu. Oder lieber doch Erich Hackl?

„Anything Goes“, wie Paul Feyerabend zu sagen pflegte.

Hans Mommsen, Memorabile zwei

Bisweilen, wenn ich öffentliche, tagesaktuell motivierte Stellungnahmen von Kolleginnen und Kollegen über den Nationalsozialismus höre oder lese, überfällt mich das seltsame Gefühl einer Abwesenheit, einer Leere. Dies hat weder mit dem Inhalt dessen zu tun, was geäußert wird, noch mit der Art und Weise, in der es geschieht, sondern resultiert einzig und allein aus der Tatsache, dass dann eine imaginäre Person vor meinem geistigen Auge auftaucht, nämlich Hans Mommsen, der am 5. November 2015 im Alter von 85 Jahren verstorben ist. Oft ertappe ich mich bei dem Gedanken, was er wohl zu dem in Rede stehenden Sachverhalt gesagt hätte, was er geschrieben hätte, wie er aufgetreten wäre. Mich beschleicht dann regelmäßig der Verdacht, dass er für mich geradezu die Verkörperung eines public intellectual war (nein, immer noch ist), an dem ich alle anderen messe. Woran liegt das? Hat dies etwas mit seiner besonderen Aura zu tun? Sicherlich auch. Ich glaube allerdings, dass hier mehr zu sagen ist, dass sich hier eine Tiefenschicht meiner Erfahrungen mit ihm und mit seinen Texten auftut, die gar nicht so einfach zu beschreiben ist. Ich will dies dennoch versuchen, indem ich etwas über seine Herangehensweise an die Interpretation des Nationalsozialismus (der aber natürlich nicht das einzige seiner Themen war) reflektiere.

Worin bestand eigentlich Hans Mommsens Methode? Wie lehrte er Geschichte? Was verstand er unter Geschichtswissenschaft? Einer Beantwortung dieser Fragen kann man sich auf doppelte Art und Weise nähern: erstens durch eine Reflexion über die eigenen Erfahrungen mit ihm innerhalb wie außerhalb des Seminars, zweitens durch eine Analyse seiner wenigen theoretisch gehaltenen Schriften. Der Ort, der für meine eigenen Erfahrungen paradigmatisch ist, war Hans Mommsens Oberseminar, regelmäßig abgehalten am Montag von 18-20 Uhr im Landesbanksaal des „Hauses der Freunde“ an der Ruhr-Universität Bochum, das mittlerweile abgerissen worden und dem neu errichteten Gesundheitscampus gewichen ist. In der Zeit, in der ich bei ihm studierte und später dann, nach erfolgreicher Absolvierung meines Magisterexamens, während meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter, bestand dieses Oberseminar ausschließlich in der Lektüre von Quellentexten zur Geschichte der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Meine Aufgabe bestand darin, dieses Seminar zu begleiten und Hans Mommsen vorab Vorschläge zu den zu erörternden Quellentexten zu unterbreiten. In der Regel griff ich dazu auf eine große, am Lehrstuhl vorhandene Sammlung archivalischer Dokumente zurück, die er zusammen mit Susanne Willems (1988) für das Buch „Herrschaftsalltag im Dritten Reich“ zusammengetragen hatte. Auch Dokumente, über die im Hauptseminar gesprochen worden war und die eine gewisse Bedeutung für die dortigen Interpretationen hatte, standen regelmäßig zur Auswahl.

Wenn sich Hans Mommsen dann für ein Dokument entschieden hatte, wurde es kopiert und in einer notwendigen Anzahl im Seminarapparat am Eingang der Historischen Bibliothek ausgelegt. Er selbst bereitete sich dann am Montagnachmittag zu Hause auf die Oberseminarsitzung vor, und mindestens die Hälfte der etwa fünfzehn bis zwanzig Seminarteilnehmer brüteten zur gleichen Zeit in der Historischen Bibliothek darüber; stets auf der Suche nach Lexika zur Begriffsklärung oder nach erläuternden Texten. Gegen 17.45 Uhr setzte man sich dann gemeinsam zu Fuß zum Landesbanksaal in Bewegung (die Strecke dauerte eine Viertelstunde), obwohl alle wussten, dass Hans Mommsen erst gegen 18.15 Uhr mit seinem VW anrauschen würde. Meistens aber hatte die „diensthabende“ Hilfskraft den Schlüssel (und dies war in den meisten Fällen ich selbst), so dass man gegen 18 Uhr auf offene Türen hoffen durfte. Über die Sitzung selbst ist nicht viel Aufhebens zu machen: Hans Mommsen ging den Text Zeile für Zeile durch, stellte gezielte Fragen, rief auf, wen er wollte, ob er sich nun gemeldet hatte oder nicht und erzählte nebenher Einiges aus seinem Forscherleben, von Konferenzen, persönlichen Gesprächen, bei denen diese oder jene Frage erörtert worden war. Ich weiß nicht, welchen Lerneffekt dies auf die Anwesenden hatte, von denen einige doch mit einer gehörigen Portion Respekt, wenn nicht gar einer gewissen Angst, aufgerufen zu werden, gezeichnet waren. Wichtig war mir nur die Kommunikationssituation selbst: hier hatte man einmal im Studium die seltene Möglichkeit, an der kommunikativen Erarbeitung einer Quelleninterpretation selbst mitzuwirken, und dann noch in Gegenwart eines großen Gelehrten. Das Ganze war zudem relativ unverbindlich, denn einen Schein bekam man nur für Anwesenheit und mündliche Beteiligung (für das Studium war dieser Schein auch gar nicht verpflichtend). Wer an diesem Oberseminar teilnahm, wollte etwas lernen.

Hans Mommsen lehrte keine Methode, aber er hatte eine, die er in einem programmatischen Artikel in einem von seinem damaligen Freund Waldemar Besson herausgegebenen Sammelband formulierte. Der Artikel hieß „Historische Methode“ und begann gleich mit einem Paukenschlag: „Der Begriff der historischen Methode“, so lauten die ersten Sätze, „bezieht sich nicht einfach auf die technische Arbeitsweise des Historikers und ist nicht eine Sammelbezeichnung für die differenzierten Untersuchungs- und Darstellungsformen, die bei der kritischen Analyse und objektivierenden Beschreibung geschichtlicher Ereignisse und Abläufe zur Anwendung kommen. Er richtet sich vielmehr auf die Bestimmung der Eigenart des historischen Erkennens und des Wissenschaftscharakters der Geschichte. Das betrifft die Abgrenzung der geschichtlichen Wissenschaften von den Erfahrungswissenschaften – insbesondere den Naturwissenschaften und der empirischen Soziologie – und den benachbarten Disziplinen der Politischen Wissenschaften, der Nationalökonomie und der Jurisprudenz wie die Erhellung des Verhältnisses von geschichtlicher Bemühung und Selbstverständnis der Gegenwart“ (Mommsen 1961: 78 f.).

In dieser Einleitung drückt sich aus, was den Historiker Hans Mommsen Zeit seines Lebens kennzeichnete: ein Insistieren auf dem Wissenschaftscharakter der Geschichtsschreibung und eine Verteidigung der innerdisziplinären Erkenntnisoperationen gegen alle Übergriffe von Seiten anderer Wissenschaften. Dies ließ ihn alle Forderungen nach Inter- oder gar Transdisziplinarität mit Argwohn betrachten. Von Hans Mommsen habe ich gelernt, dass die Geschichtswissenschaft ihre eigene Disziplin, ihre eigenen Erkenntnisweisen und Operationen so stark wie möglich machen muss, um im Gespräch mit anderen Disziplinen (das er übrigens, zumindest in den späteren Jahren seines Wirkens, nie scheute; siehe etwa Mommsen 1996) bestehen zu können. Wie geht der Artikel „historische Methode“ weiter?

Scharfe Entgegensetzung von idiographischer Methode der Geschichtswissenschaften und nomothetischer Methode der Naturwissenschaften gilt für die Gegenwart nicht mehr [79]; Naturwissenschaften haben begrenzten Anwendungsbereich der klassischen Physik erkannt und heben bloßen Abbildcharakter ihrer Ergebnisse hervor; diese gelten nur bezüglich der Fragestellung und innerhalb strenger definitorischer Grenzen; Wechselverhältnis zwischen induktiver Experimentalforschung und theoretischer Forschung (= Entwicklung systemkohärenter Arbeitshypothesen) ist mit Doppelseitigkeit der historischen Methode vergleichbar; diese leitet aus dem Quellenbefund allgemeine Zusammenhänge ab, konfrontiert sie in der Form von Fragestellungen (historische Heuristik) wieder mit dem Quellenmaterial und prüft sie auf ihre Richtigkeit [80]; auch die Geschichtswissenschaft ist bestrebt, vom individuellen Faktum zu allgemeinen deutenden Aussagen aufzusteigen; bedient sich zu diesem Zweck typologisierender Begriffsbildung, deren Verbindlichkeit durch die jeweilige Fragestellung begrenzt ist; bewegt sich im Rahmen der Heuristik, d.h. „die von ihr gebildeten Begriffe und Theorien bedürfen der Bestätigung an jedem einzelnen Gegenstand, werden somit beständig in Frage gestellt und sind nicht die Erklärung der historischen Vorgänge selbst, sondern nur Mittel dazu“; darin liegt Abgrenzung der Geschichtswissenschaft von der Soziologie, der Nationalökonomie und den systematischen Zweigen der Politischen Wissenschaft; diese streben die Herausarbeitung der typischen und gesetzmäßigen Erscheinungen an.

Zwei Aspekte sind hier bemerkenswert: Die Vorstellung von Geschichtsschreibung als einem niemals abzuschließenden Prozess der Interpretation: genauer: der Verallgemeinerung von Einzeltatsachen, und die bloß heuristische Verwendung von Theorien und Begriffen. Zum einen dürfen sich Historikerinnen und Historiker nicht auf eine bloße Nachzeichnung des Tatsächlichen (was immer das sein soll) beschränken, sondern müssen verallgemeinern. Zum anderen sind Theorien und Begriffe lediglich Hilfsmittel und erklären niemals das Konkrete. Was aber ist dieses Konkrete, der Gegenstand der Geschichtswissenschaft nach Hans Mommsen?

Der Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist nicht als ein unabhängig vom Betrachter existierendes Gegenüber gegeben, sondern unterliegt der Verwandlung, indem er der analytischen Forschung und Interpretation unterzogen wird; folgt doppelter Bewegung = a) Prozeßhaftigkeit allen vergangenen Lebens und b) Veränderungen des die Geschichte betrachtenden Menschen, der selbst dem geschichtlichen Werden unterworfen ist; Gegenstand der Geschichtswissenschaft = Wissen von der Vergangenheit (formale Definition); kann in verschiedenen Formen lebendig sein, d.h. schriftliche und mündliche Überlieferung [80 f.]; Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist es zunächst, dieses bruchstückhafte Wissen zum Rang eines nachprüfbaren und kontrollierten Wissens zu erheben = Systematik [81]; Quellenkritik = Zusammengehöriges und Nichtzusammengehöriges unterscheiden; Geschichtswissenschaft kann das Leben einer vergangenen Epoche nicht in seiner ganzen Breite reproduzieren; vermittelt nur einen Ausschnitt aus der Fülle vergangener Wirklichkeiten; bewahrt nur das, was wissenswert ist; Interesse an der Vergangenheit umfaßt nur das, was unsere Gegenwart bedingt.

Und wieder eine bemerkenswerte Formulierung: der Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist kein fester, sondern variiert je nach Betrachter. Sie wird verkompliziert durch das Eingeständnis, dass sich auch der Betrachter wandelt. Also ein doppelter historischer Wandel auf Seiten des Gegenstandes (durch permanente, sich verändernde Überlieferung) und auf Seiten der Betrachter (durch fortschreitende Erfahrung). Der Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist nicht etwa eine Schlacht, eine Naturkatastrophe, eine Handlung eines Verwaltungsmitarbeiters, sondern das überlieferte Wissen darüber, man könnte auch sagen: die überlieferte Information. Die historische Referentialität liegt also zugleich auf der Seite des Objekts und auf der Seite des Subjekts. Diese Position erinnert an Vorstellungen des Konstruktivismus, die in den Geschichtswissenschaften erst frühestens Ende der 1980er Jahre aufkamen (Goertz 2001: 95-102). Sicherlich konnte sich Hans Mommsen auf einige frühkonstruktivistische Auffassungen aus Johann Gustav Droysens „Historik“ berufen; seine generelle kritische Auseinandersetzung mit der Epoche des Historismus ließ ihn jedoch weiter gehen als viele andere Historiker seiner Zeit.

„Die Geschichtswissenschaft hat es ja vorwiegend mit hochkomplizierten Sach- und Wirkungszusammenhängen zu tun, die nur vermittels einer hochgradigen begrifflichen Abstraktion erfaßt werden können“ [82]; es ist daher eine methodische Grundforderung, das auf Geschichte angewandte Begriffssystem, das fast durchweg Wertakzente setzt, kritisch zu prüfen; historische Begriffsbildung kann nie zur definitorischen Exaktheit der Naturwissenschaften vordringen; hat mit Besonderheit der geschichtlichen Welt zu tun, die sich einer genetisch-kausalen Erklärung entzieht [82 f.]; Isolierbarkeit des Gegenstands ist nicht möglich [83]; jede Beschränkung auf räumlich begrenzte Ereignisfolge zerschneidet vielfältige Kausalitätsbezüge; Kritik an Auffassungen des historischen Materialismus; „Die unendliche Verarmung des historischen Wissens, das auf wiederkehrende und auswechselbare Ablaufstypen zusammengedrängt wird, zeigt eindrücklich, daß der Versuch einer kausalistisch-positivistischen Geschichtserklärung sich den Zugang zur Vielfalt der geschichtlichen Welt verschließt“ [83 f.]; Frage der Determiniertheit historischer Abläufe vom Gegenstand der Geschichtswissenschaft her nicht zu beantworten [84].

Als nächstes also zwei Bekenntnisse: das Bekenntnis zum Begriff (also zur Abstraktion) und das Bekenntnis zum Indeterminismus (zum diesem in der Geschichtswissenschaft nicht gängigen Begriff Müller 2015). Wer Hans Mommsen kannte, wird vom ersten Aspekt nicht verwundert sein, hat er doch immer mit Begriffen gearbeitet, die er entweder selbst geprägt oder aus anderen Arbeitszusammenhängen übernommen hat (Mommsen 1976). Das zweite Bekenntnis ist jedoch erklärungsbedürftig, forcierte er im Oberseminar in der Regel Interpretationen, in deren Zentrum spezifische Kausalitätsannahmen standen. Dieses Problem ist nicht ohne Berücksichtigung von Hans Mommsens generellem Geschichtsverständnis zu klären; einstweilen ist nur zu betonen, dass er Geschichte grundlegend als einen Prozess versteht, als Geschehen, das zwischen zwei Zeitpunkten gerichtet abläuft. Und das Wort „gerichtet“ ist hier zentral, denn es geht ihm um eine Art Pfadgebundenheit, und die Kausalität ergibt sich in aller Regel durch die spezifische Konditionierung des Prozesses (ist insofern nicht unbedingt Handlungskausalität). Die zentrale Stoßrichtung von Hans Mommsens historischer Methode ist dann aber anti-historistisch.

Historismus = Einmaligkeit/Besonderheit aller geschichtlichen Erscheinungen als bestimmende Kategorie des historischen Erkennens (Individualitätsthese); diese Absolutsetzung negiert Vergleichbarkeiten und entgeht dem Werterelativismus nicht (Ernst Troeltsch); Begriff „Verstehen“ (Wilhelm Dilthey) hängt eng mit der idealistischen Identitätsphilosophie zusammen; Droysen = Aufgabe des Historikers sei es, „forschend zu verstehen“; Verstehens-Begriff ruht auf metaphysisch begründeter doppelter Identität von Subjekt und Objekt auf; Identität von Individuellem und Allgemeinem gilt auch für das Verhältnis des Menschen zur Geschichte [85]; er ist Subjekt und Objekt des geschichtlichen Erkennens zugleich; dem Historiker ist „sein Objekt Fleisch von seinem Fleische; es ist ihm homogen“ (Friedrich Meinecke); Erkenntnisakt des Historikers demzufolge nicht bloß Produkt einer Verstandestätigkeit, sondern „umfaßt die intuitiven und sinnlichen Kräfte, die gemüthaften, ästhetischen und sittlichen Empfindungen sowohl wie Phantasie und Anschauungsvermögen“; Individualitätsidee ist es, die diese Form unmittelbaren Verstehens erst ermöglicht [85 f.]; Postulat der Totalität der geschichtlichen Welt und das Individualitätsaxiom finden ihre Entsprechung in einem Entwicklungsbegriff, der den geschichtlichen Prozeß als „wachstümliche, organische Entwicklung“ begreift [86]; historistischer Verstehens-Begriff trägt zwei elementaren Erfahrungen nicht genügend Rechnung = a) Gewahrwerden der Entfremdung von der Vergangenheit und b) Dimension der Zeit.

Sehr viel Raum seines Artikels verwendet Hans Mommsen also darauf, die Individualitätsthese (oder -annahme) und den damit zusammenhängenden „Verstehens“-Begriff des Historismus zu reflektieren (generell Jaeger/Rüsen 1992; Rüsen 1993). Seine Kritik ist deutlich: durch die wachsende zeitliche Entfernung des Historikers von seinem Gegenstand kann man nicht mehr vom „Nacherleben“ sprechen, das für den Verstehens-Begriff des Historismus so zentral war. Das Leben der Historiker heute ist ein völlig anderes als das der Menschen beispielsweise im Mittelalter, die nicht mehr so umstandslos „verstanden“ werden können (anderes gilt für die Zeitgeschichte). Und die Individualitätsidee schließt apriori alle Vergleiche aus, was sie in einen unendlichen Relativismus einmünden lässt. Was schlägt Hans Mommsen dagegen vor?

Historische Methodologie = Doppelseitigkeit, d.h. individualisierendes und generalisierendes Verfahren [87]; hermeneutisches Verfahren = begriffliche Kriterien der Interpretation werden dem Gegenstand selbst abgewonnen; Gefahr des hermeneutischen Zirkels (= Gegenstand wird aus seinen geschichtlichen Dimensionen gelöst); Singularitätsaxiom widerlegt sich bei seiner methodischen Verabsolutierung selbst, da Gleichförmigkeiten, Regeln und Muster in der Geschichte schlechterdings nicht bestritten werden können [88]; deshalb ist die Typenbildung ein wesentlicher Bestandteil historischer Forschung; Begriff „Stadt“ (Max Weber) als Idealtypus; typologisierendes Verfahren hat in Geschichtswissenschaft die Funktion übernommen, die das Individualitätspostulat ein Jahrhundert zuvor besaß; Typusbegriff unterliegt nicht der Kritik des empirisch Richtigen, sondern seine Anwendbarkeit liegt im Bereich der Heuristik [89]; Kritik an „Kryptotypen“ (Theodor Schieder) wie „Staat“; Problem „Synopsis“ (generalisierende Methode); Gesamtansicht kann sich nicht nur in der bloßen Anhäufung historischen Wissens erschöpfen; stattdessen „gegenwartsbezogene [n] Ausschnitthaftigkeit“; erfordert hohes Maß an komprimierender Abstraktion, die durch Verlust an Anschaulichkeit erkauft wird.

Hans Mommsens Argument ist also ein zweiseitiges: Individualisierende Methodologien müssen durch generalisierende Ansätze flankiert werden, und unter beiden Herangehensweisen gibt es jeweils besser und schlechter geeignete. Bei der individualisierenden Methode steht er der Hermeneutik eher skeptisch gegenüber und bevorzugt stattdessen Max Webers Konzept der Idealtypen (Gerhardt 2001), die zu einer geschichtswissenschaftlichen Typenlehre ausgebaut werden können (hierbei ist Hans Mommsen glasklar, dass die Idealtypen keine Realtypen sind, sondern dass sich ein historisches Phänomen immer nur im Abstand zum Idealtypus erklären lässt. Historische Aussagen müssten demzufolge die Form annehmen „Die Organisation X zum Zeitpunkt t unterschiedet sich vom Idealtypus Z in diesen und jenen Aspekten). Bei der generalisierenden Methode sieht Hans Mommsen insbesondere die Notwendigkeit, der in der Spezialforschung grassierenden Gefahr der Zersplitterung vorzubeugen und Lösungen für das „Synopsis-Problem“ zu finden. Und eine Gesamtschau darf keine Anhäufung bloßen Wissens, sondern muss im Hinblick auf Erkenntnisinteressen der Gegenwart ausschnitthaft sein.

Die generalisierende Darstellung bedarf „größerer geschichtlicher Felder eines einheitlichen, deduktiv überprüften Begriffs-Systems, welches sich nicht einfach der Typenbildung bedienen kann, vielmehr diese in einem vergleichenden Verfahren in bezug auf ihre Gleichförmigkeit und Gesetzhaftigkeit betrachtet“ [90]; Vergleich, Analogie und Hypothese bei Generalisierungen von konstitutiver Bedeutung; generalisierende Methode verfährt theoretisch; Geschichtsschreibung bedient sich bei ihrem Bemühen um Gesamtdarstellungen seit langem historischer Theorien, ohne sich jedoch zum Begriff zu bekennen; Beispiele Periodisierung und Verfassungsgeschichte; neuere Geschichte entlehnt viele Ordnungskategorien der Soziologie, ohne sie jedoch in ihrer geschichtlichen Dimension begrifflich zu bestimmen; Begriffe „Imperialismus“ und „Faschismus“ sind zwar zeitgenössischen Quellen entnommen, aber mit theoretischem Gehalt aufgefüllt worden; individualisierende Methode ist mit den Ansätzen einer historischen Theoriebildung nicht preisgegeben [91]; Modelle der Sozialgeschichte.

Und hier kommen wir nachgerade zum Kern von Hans Mommsens Geschichtsverständnis: die Synopsis benötigt Theorie und ein deduktiv überprüftes System von Begriffen. Seine Beispiele der Periodisierung (Zäsurensetzung) und der Verfassungsgeschichte aus Mittelalter und Früher Neuzeit gipfeln in der Kritik an einer bloßen Übernahme solcher Theorien aus der Soziologie, die keine historische Dimension beinhalteten. Genau das meint Hans Mommsen jedoch offenbar mit historischen Theorien: einen Komplex aus synchron oder diachron miteinander verglichenen (bereits vorhandenen) Typenbegriffen, sowie die Bildung neuer Typenbegriffe (er erwähnt das Beispiel seines im gleichen Band erschienenen Artikels „Partei“), die durchaus aus der Zeit der Akteure stammen dürften. Historische Theorien haben also ein geringeres Abstraktionsniveau als soziologische Universaltheorien, Sie sind „Theorien mittlerer Reichweite“, wie ein Ausdruck des Soziologen Robert K. Merton (1995) lautete, den Hans Mommsen immer beherzigte. Sein Selbstverständnis als Historiker, der um die Zeitbedingtheit allen Geschehens wusste, ließ ihn vor Universaltheorien stets zurückschrecken.

Welche Gesichtspunkte kennzeichnen also Hans Mommsens Geschichtsverständnis? Erstens ein Insistieren auf den Wissenschaftscharakter der Historiografie und auf deren Eigenständigkeit gegenüber verwandten Disziplinen, zweitens die Vorstellung von der Unabgeschlossenheit historischer Interpretationen, deren Wahrheit immer nur eine temporäre sein kann, weil sich sowohl Gegenstände der Geschichtswissenschaft als auch ihre Beobachter wandeln, drittens die Idee der Geschichte als (indeterminierter, nicht kausaler) Prozess, viertens die (vorsichtige) Abkehr von verstehenden Absätzen (Hermeneutik) und die Hinwendung zu analytischen Verfahren (Typen), fünftens die Verbindung von Individualisierung und Generalisierung durch Relationierung von Einzelforschung und Gesamtdarstellungen und sechstens der Königsweg der Synopsis, bei der es historischer Theorien und eines deduktiven Begriffs-Systems bedarf. Es wäre nun ein etwas mühseliges Unterfangen, diese sechs Aspekte im Hinblick auf Hans Mommsens Interpretation des Nationalsozialismus zu untersuchen. Festzuhalten bleibt einstweilen nur, dass der zweite Aspekt, die Temporalität historischer Wahrheit, aufgrund seines Selbstverständnisses als public intellectual notgedrungen immer weiter verlorenging. Hans Mommsen bewegte sich in den 1980er und 1990er Jahren zusehends im Raum einer Öffentlichkeit, die keiner Ambivalenzen und Differenzierungen bedurfte, sondern eindeutiger geschichtswissenschaftlicher Expertise mit unabänderlich erscheinendem Wissen. Seine persönliche Tragik war es, dass er diese Nachfrage, sei es im Historikerstreit, sei es in der Goldhagen-Debatte, stets bediente, obwohl er wusste, wie unfruchtbar dies vom geschichtswissenschaftlichen Standpunkt aus ist.

Referenzen

Gerhardt, Uta: Idealtypus. Zur methodischen Begründung der modernen Soziologie, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2001

Goertz, Hans-Jürgen: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Reclam: Stuttgart 2003

Jaeger, Friedrich/Rüsen, Jörn: Geschichte des Historismus. Eine Einführung, C.H. Beck: München 1992

Merton, Robert K.: Soziologische Theorie und soziale Struktur, hg. u. eingel. v. Volker Meja u. Nico Stehr, de Gruyter: Berlin/New York 1995 [im amerikanischen Original in erw. Version erschienen: 1957]

Mommsen, Hans: Historische Methode, in: Das Fischer Lexikon Geschichte, hg. v. Waldemar Besson, Fischer: Frankfurt am Main 1961, S. 78-91

ders.: Der Nationalsozialismus. Kumulative Radikalisierung und Selbstzerstörung des Regimes, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 16, Mannheim/Wien/Zürich 1976, S. 785-790

ders./Willems, Susanne (Hg.): Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, Schwann: Düsseldorf 1988

ders.: Modernität und Barbarei. Anmerkungen aus zeithistorischer Sicht, in: Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts, hg. v. Max Miller und Hans-Georg Soeffner, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1996, S. 137-155

Müller, Julian: Bestimmte Unbestimmtheiten. Skizze einer indeterministischen Soziologie, Wilhelm Fink: München 2015

Rüsen, Jörn: Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1993

scholé, geschichtswissenschaftliche Meditationen, A

In der an Universitäten und Forschungseinrichtungen institutionalisierten Geschichtswissenschaft herrscht Knappheit. Nicht an Stellen, Ideen, Konzepten, und schon gar nicht an Geschriebenem. Knapp ist ihr die Zeit. Mails harren der Antwort; Aufsätze der Begutachtung und Überarbeitung durch Herausgeber (die männliche Form, die in dieser Eintragung durchweg steht, ist übrigens in jedem der genannten Fälle angebracht!), die jahrelang nichts von sich hören lassen und dann aus heiterem Himmel (meist in der Urlaubszeit) eine Korrekturfahne eines mittlerweile hoffnungslos veralteten Manuskripts schicken, die binnen weniger Tage bearbeitet und mit einem englischen abstract versehen werden muss; Konferenzbände sind mehrere Jahre in Verzug, weil Autoren ihre vereinbarten Beiträge einfach nicht liefern (und sich bei Nachfragen telefonisch dann auch noch verleugnen lassen); Kollegen sagen Aufsätze zu, ohne dass danach man je wieder von ihnen gehört hätte (was sie unter Umständen nicht daran hindert, den Band, in dem ihr Elaborat hätte erscheinen sollen, später in einer Rezension zu verreißen). Wer je einen Sammelband, eine Zeitschrift oder einen Rezensionsteil betreut hat, weiß, wovon ich rede (die obigen Beispiele gehen samt und sonders auf eigene Erfahrungen zurück). Die Überforderung der akademischen Geschichtswissenschaft scheint mir nicht zuletzt ein Resultat der so zeitfressenden öffentlichen Performanz (dazu die Beiträge in Etzemüller 2019) institutionalisierter Historiker, ob anlässlich von Konferenzen, Vorträgen, Gremiensitzungen oder Treffen mit politischen Entscheidern oder Protagonisten der Massenmedien, bei denen es darum geht, irgendein Thema, für das man sich zuständig fühlt, in einer Kommission oder einer Fernsehdokumentation aufzuarbeiten.

Geschichtsschreibung benötigt Zeit, und zwar Zeit zum Lesen, zum Denken und zum Schreiben, also jene Produktionsbedingungen, die in der platonischen und aristotelischen Philosophie unter den schönen Begriff der „scholé“ (Muße, freie Zeit, Zeit zum ernsthaften Spielen) gefasst wurden und nachgerade als Voraussetzung von Erkenntnis galten (Kalimtzis 2017). Diese Einsicht gilt es in der Serie von Eintragungen, die ich unter „scholé, geschichtswissenschaftliche Mediationen“ in den kommenden Monaten zu verfassen beabsichtige, zu beherzigen; jedoch nicht, ohne darin auch jene Kritik einfließen zu lassen, die Pierre Bourdieu, einer der berühmtesten französischen Soziologen, an der „scholé“ und ihrem daraus resultierenden „scholastischen Epistemozentrimus“ geäußert hat (Bourdieu 2001: 18-63; Hark 2009). Mir geht es unter dem Begriff „scholé“ darum, über Dinge zu reflektieren, für die im geschichtswissenschaftlichen Tagesgeschäft zu wenig oder gar keine Zeit ist. Etwa das Denken. Welchen Stellenwert hat es für die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und welchen für Historiker, die sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus befassen? Und: welchen Stellenwert hat es für mich selbst?

Ich beginne mit einem Zitat von Simone Weil (1909-1943), der im Pariser Großbürgertum aufgewachsenen Tochter eines Internisten, Jüdin, Philosophin, Schwester eines berühmten Mathematikers der Gruppe Nicolas Bourbaki, Marxistin, im Spanischen Bürgerkrieg kurze Zeit Milizionärin in der Kolonne Durutti, Anarchistin, Pazifistin, im britischen Exil Angehörige der gaullistischen Résistance gegen die NS-Okkupation Frankreichs, (vermutliche) Konvertitin zum katholischen Glauben (Wimmer 2005, 2007 u. 2009; Pétrement 2007): „Die Gemeinschaft ist in allen Bereichen mächtiger als das Individuum, außer in einem: denken […]: das »Recht« des Individuums gegenüber der Gesellschaft, das ist genauso lächerlich wie das »Recht« des Gramms gegenüber der Tonne. Das Individuum hat nur eine Stärke: das Denken. Doch nicht wie es die platten Idealisten verstehen – Bewußtsein, Meinung etc. Das Denken stellt eine Kraft dar und begründet also nur insofern ein Recht, als es ins materielle Leben eingreift“ (Weil 1991: 63).

Das Denken, so ist Weil zu verstehen, ist die Stärke des Individuums. Nur im Denken ist dieses stärker als das Kollektiv. Und das Individuum kann, wenn es sich seiner Stärke besinnt, einen Hort der Autonomie im Hinblick auf das ausbilden, was sie einmal „Gemeinschaft“, ein anderes Mal „Gesellschaft“ nennt. Das Denken als Kraft scheint aber nur dann wirksam zu sein, wenn es ins Leben eingreift. Wie kann das jedoch vonstatten gehen? Gibt es nicht einen unentrinnbaren Hiatus zwischen Denken und Tun, zwischen Prozessen, die sich im individuellen Bewusstsein abspielen, und solchen, die gesellschaftlich relevant werden können? Dies ist sicherlich ein Problem, aber für den Historiker ist es weniger relevant. Seine Praxis ist das Schreiben, und damit sich sein Denken überhaupt in irgendeiner Form materialisieren kann, muss er zunächst einmal geschrieben haben. Was danach mit seinem Text passiert, hat er schon nicht mehr in der Hand. Aber durch das Geschriebene, das er ins Wissenschaftssystem einspeist, verändert sich dieses bereits. Genauer könnte man sagen: die Welt (nicht nur jene der Wissenschaft) verändert sich mit jedem veröffentlichten Text!

Wie eigentlich denken Historikerinnen und Historiker, die sich heute mit der Geschichte des Nationalsozialismus befassen? Mit welchen Unterscheidungen fangen sie an, von welchen Präsuppositionen lassen sie sich leiten und wie fließen diese in ihre Produkte ein? Natürlich kann diese Frage immer bloß oberflächlich beantwortet werden, indem man das Geschriebene selbst analysiert und dann auf individuelle Denkprozesse rückschließt (und dies geht überdies nur am Einzelbeispiel). Zudem fehlt es, bis auf eine rühmliche Ausnahme aus der vorhergehenden Generation (Hilberg 2008 u. 2009; dazu Schlott 2019), an entsprechenden Selbstreflexionen. Es mehren sich aber die Anzeichen dafür, dass dies nicht so bleiben muss, angestoßen durch jene Entwicklung in der NS-Forschung, bei der Historiker, eigentlich Einzelkämpfer par excellence, immer mehr an gemeinsamen Projekten arbeiten. Es ist die so genannte Auftragsforschung, etwa zur Vor- und Frühgeschichte der Bundesministerien und der Länderparlamente (als Überblick Mentel/Weise 2016), die auch erste Pflänzchen der Selbstkritik hervorbringt, wie ich anlässlich einiger Projektreffen, an denen ich teilnehmen durfte, und vielen eher informellen Unterredungen mit beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern selbst erfahren habe.

Kürzlich ist mit dem Beitrag von Christian Mentel (2020) erstmals eine Selbstreflexion erschienen, die gleich in doppelter Hinsicht bemerkenswert ist. Zum einen ist der Autor selbst an einem entsprechenden Projekt beteiligt (https://www.geschichte.hu-berlin.de/de/bereiche-und-lehrstuehle/zeitgeschichte/neueste-und-zeitgeschichte/personen/christian-mentel), zum anderen scheint sich dieses „ist“ mittlerweile in ein „war“ verwandelt zu haben: „Zum Zeitpunkt der Publikation dieses Essays werde ich die prekären, zur Selbstausbeutung verleitenden Beschäftigungsverhältnisse in der Wissenschaft gegen eine unbefristete und mit Perspektiven ausgestattete Position eingetauscht haben. Eine Stelle in einer Behörde, für die das Thema Behördenforschung keine Rolle spielt“ (ebd.: 161). Es handelt sich also um eine Selbstreflexion aus dem Inneren eines Projektverbundes, die zugleich eine Fremdbeobachtung zu sein scheint; inwiefern Mentel das Projekt noch zu beenden gedenkt, teilt er dem Leser nämlich nicht mit.

Mentels Text beginnt mit einem kurzen Rückblick auf die Entwicklung der Behördenforschung seit 2005, die er in die drei Felder Auftragsforschung (Behörden berufen Kommissionen oder einzelne Historiker ohne vorherige Ausschreibung), Zuwendungsforschung (sie setzen dabei auf transparente, kompetitive Vergabeverfahren) und Ressortforschung (sie lassen die Geschichte ihrer Dienststelle durch hausinterne Personen oder Wissenschaftler schreiben) einteilt. Danach trägt er „anhand der vier Aspekte Projektentwicklung, Arbeitsstrukturen, Forschungspraxis und Umgang mit der Öffentlichkeit Beispiele wissenschaftsseitiger Strukturen und Praktiken im Feld der Behördenforschung zusammen, die man als diskussionsbedürftig, unzureichend, zweifelhaft, kontraproduktiv oder auch als unzulässig bezeichnen kann“ (ebd.: 142). Weiter meint Mentel: „Über solche kritikwürdigen Verhaltensweisen von Historiker/innen feindet im Fach zu wenig offener Austausch statt. Indem Unzulänglichkeiten und Fehlleistungen entweder vollständig ausgeblendet, wechselseitig toleriert oder als disqualifizierende Argumente verwendet werden, versagt sich die Zunft der Chance, Verfahren zu entwickeln, den in der Behördenforschung in besonderer Weise zu Tage tretenden Problemen besser als bislang zu begegnen“.

Unter „Projektentwicklung“ gibt Mentel einige Beispiele für Nepotismus im Vergabeverfahren bei der Auftragsforschung sowie für Rollenkonflikte innerhalb der Ressortforschung, unter „Arbeitsstrukturen“ geht es im Wesentlichen um Probleme der Arbeitsteiligkeit und Eingriffe in einzelne Projekt-Manuskripte, unter „Forschungspraxis“ um privilegierten Quellenzugang und unter „Umgang mit der Öffentlichkeit“ um die Präsentation von Zwischen- und Endergebnissen der jeweiligen Projekte. Ein zentrales Thema spricht Mentel jedoch gar nicht an: die eigentliche geschichtswissenschaftliche Arbeit, und zwar das Sammeln und Interpretieren von Informationen (Quellen), die Lektüre von Sekundärliteratur und die langsame Verfertigung der Thesen im langwierigen Prozess der inhaltlichen Arbeit im Hinblick auf den Forschungszusammenhang, in dem sie steht. Dieser ist ein doppelter: das Feld der Geschichtswissenschaft und das Projekt. Man kann sich darüber streiten, ob man diesen doppelten Forschungszusammenhang mit Theorien von „Organisationen“ oder von „Netzwerken“ in den Griff bekommen könnte. Wichtig ist hier nur, dass es um einen kollektiven Forschungszusammenhang geht.

Kollektives anstatt individuelles Denken, das ist der Unterschied, den die Auftragsforschung macht, und dieser Unterschied ist einer ums Ganze. Die geschichtswissenschaftliche Wahrheit ist eine andere, wenn öffentliche Behörden, die nicht zum Feld der Geschichtswissenschaft gehören, den Rahmen der Forschung setzen und eine Gruppe konstituieren, die sich über einen begrenzten Zeitraum gemeinsam mit einer Frage beschäftigt. Das Denken im Forschungskollektiv, in einem Projekt der Auftragsforschung, ist konditioniert, es steht also unter Bedingungen, die zum einen durch die Auftraggeber, zum anderen durch die Interaktion mit anderen am Projekt beteiligten Wissenschaftlern geschaffen werden. Und diese Bedingungen basieren meist auf hierarchischen Abhängigkeitsverhältnissen (Forschungsgruppenleiter und Kommissionsmitglieder, in der Regel Vollzeitprofessoren, stoßen auf Habilitanden und Promovenden, in der Regel in der Phase der Qualifikation und von der Bewertung ersterer unmittelbar abhängig). Wenn jedoch das Denken des Individuums wirklich stärker ist als das Denken des Kollektivs, wie Weil insinuiert, dann nicht zuletzt, weil es weniger konditioniert ist. Individuelles Denken ist labyrinthisch. Und der labyrinthische Historiker sucht nicht etwa eine definitive Wahrheit, sondern seine Ariadne (frei nach Barthes 1989: 83).

Intertexte

Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1989 (Taschenbuchausgabe) [im frz. Original erschienen: 1980]

Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2001 (Taschenbuchausgabe)

Etzemüller, Thomas (Hg.): Der Auftritt. Performanz in der Wissenschaft, transcript: Bielefeld 2019

Hark, Sabine: Scholé (skholé) und scholastische Sicht, in: Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike (Hg.): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Metzler: Stuttgart/Weimar 2009, S. 216-219

Hilberg, Raul: Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers, Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 2008

ders.: Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren, Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 2009

Kalimtzis, Kostas: An Inquiry into the Philosophical Concept of Scholê. Leisure as a Political End, Bloomsbury: London/New York 2017

Mentel, Christian: Der kritische Blick auf sich selbst. Zur Verantwortung der historischen Zunft in der Behördenforschung, in: Böick, Marcus/Schmeer, Marcel (Hg.), Im Kreuzfeuer der Kritik. Umstrittene Organisationen im 20. Jahrhundert, Campus: Frankfurt am Main/New York 2020, S. 139-161

ders./Weise, Nils: Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung, Eigenverlag: München/Potsdam 2016 [zum Download unter: https://www.ifz-muenchen.de/fileadmin/user_upload/Neuigkeiten 2016/2016_02_13_ZZF_IfZ_PM_BKM-Studie_FINAL_Neu.pdf].

Petrément, Simone: Simone Weil. Ein Leben, Universitätsverlag: Leipzig 2007

Schlott, René (Hg.): Raul Hilberg und die Holocaust-Historiographie, Wallstein: Göttingen 2019

Weil, Simone: Cahiers/Aufzeichnungen. Erster Band, hg. u. übers. v. Elisabeth Edl und Wolfgang Matz, Carl Hanser: München/Wien 1991

Wimmer, Reiner: Vier jüdische Philosophinnen. Rosa Luxemburg, Simone Weil, Edith Stein und Hannah Arendt, Reclam: Stuttgart 2005

ders.: Simone Weil. Interkulturell gelesen, Traugott Bautz: Nordhausen 2007

ders.: Simone Weil. Person und Werk, Herder: Freiburg 2009

Historische Organisationsforschung, eins (Beobachter)

Organisation, endlich. So dachte ich jedenfalls, als mir „Soziopolis“, die soziologische Online-Zeitschrift, die Besprechung des Sammelbandes „Im Kreuzfeuer der Kritik“ anbot, der sich mit dem Stellenwert von Organisationen im 20. Jahrhundert befasst (Böick/Schmeer 2020). Ich sagte freudig zu, hoffend, die Geschichtswissenschaft werde das von ihr lange vernachlässigte Thema „Organisation“ produktiv aufgreifen. Die Lektüre des Bandes freilich erwies sich weitgehend als Enttäuschung; von historischer Organisationsforschung, wie ich sie mir vorstelle, kaum eine Spur (https://www.soziopolis.de/lesen/buecher/artikel/brueckenschlaege-zwischen-zeitgeschichte-und-organisationssoziologie/). Nach einem kurzen kollegialen Mailwechsel mit einem der beiden Herausgeber, der meine Kritik teils anerkannte, teils überzogen fand, entschloss ich mich, meinen eigenen Zugang zum Thema zu präzisieren. Dies geschieht hier mittels einer Serie von insgesamt elf Eintragungen, in denen ich mein eigenes Verständnis dessen vorstelle, was ich vorübergehend einmal „historische Organisationsforschung“ nennen will. Diese sind übrigens analog zu jenen elf Imperativen gestaltet, denen die Geschichtsschreibung folgen müsste, um sich als Wissenschaft in einer „nächsten Gesellschaft“ (Baecker 2018: 130-142) zu konstituieren. Im Computerzeitalter kann es für die Geschichtswissenschaft (die noch immer eine Wissenschaft des Buchdrucks ist) meines Erachtens kein „weiter wie bisher“ mehr geben.

Ein erster Imperativ jener historischen Organisationsforschung, die es hier zu umkreisen gilt, und damit zugleich aller (geschichts)wissenschaftlichen Kognition lautet: Unterscheide (dich als) Beobachter (dazu aus allgemeiner Sicht Baecker 2013: 76-140)! Ich beobachte die Geschichte von Organisationen, und ich beobachte sie anders als andere. Wer ist dieses „Ich“, das sich hier als Beobachter konstituiert? Wie beobachtet dieses „Ich“ im Unterschied zu „Anderen“ und welcher Mittel bedient es sich dazu? Nehmen wir die Einleitung der Herausgeber des erwähnten Sammelbandes mit dem Titel „Aus dem toten Winkel ins ,Kreuzfeuer der Kritik‘? Organisationen in der zeithistorischen Theorie und Praxis“ (Böick/Schmeer 2020: 9-65), den neuesten und bisher anspruchsvollsten geschichtswissenschaftlichen Text zum Thema „Organisationsforschung“, und kommentieren das Exzerpt, das ich im Vorfeld meiner Rezension angefertigt habe, um auf diese Art und Weise die Differenz Ich/Andere deutlich zu markieren (das Exzerpt selbst steht im Folgenden in Kursivschrift, meine Kommentare erfolgen in Normalschrift; Seitenzahlen aus der Einleitung der Herausgeber finden sich in eckigen Klammern).

Organisationen sind eine zentrale Referenz zeithistorischen Arbeitens und Forschens als a) Forschungsperspektive, b) Produzenten von Archivalien und Quellen und c) Auftraggeber (Universitäten, Institutionen, Fachverbände) [9]; „arbeitsweltlich-professionelle Omnipräsenz des Organisationellen“; Geschichtswissenschaft pflegt, im Unterschied zur Soziologie, unscharf zwischen Institution und Organisation zu unterscheiden [9 f.]; beide Begriffe werden im zeithistorischen Feld weitgehend synonym gebraucht [10]; kategoriale Differenzierung zwischen Organisation und Institution ist ein zentraler Ausgangspunkt sozialwissenschaftlicher Organisationsforschungen [10 f.]; spielt in den Geschichtswissenschaften keine Rolle [11]; implizites historiografisches Verständnis von Organisation als Institution lässt Phänomen im toten Winkel der Zeitgeschichtsforschung bleiben; hier erfolgt eine umfassende Reflexion über das Organisationelle in der Zeitgeschichtsforschung in engem Austausch mit der Organisationssoziologie [12]; könnte neuartigen Schnittpunkt bilden, um verschiedene Schulen zusammenzuführen; grundlegende Bestandsaufnahme von Organisationskonzepten in den Geschichts- bzw. Sozialwissenschaften; 1) theoretischer Stellenwert von Organisationen in der deutschen zeithistorischen Forschung, 2) Skizze der gegenwärtigen Debatten und Theoriestand der zu Organisationen arbeitenden Sozialwissenschaften, 3) Trennungs- und Verbindungslinien zwischen geschichts- und sozialwissenschaftlichen Organisationsforschungen und 4) eigenes Diskussionsangebot.

Die Arbeit geschichtswissenschaftlicher Beobachter, so erkennen es die beiden Herausgeber, ist durch eine „arbeitsweltlich-professionelle Omnipräsenz des Organisationellen“ (ebd.: 9) geprägt. Sie sind entweder selbst Mitglieder einer Organisation (z.B. einer Universität), durch eine solche sozialisiert (z.B. Schule) oder in ihrem alltäglichen Leben von deren Entscheidungen abhängig (z.B. von Verwaltungsbehörden in Sachen Daseinsvorsorge). „Organisation“ fungiert demnach, so könnte man es mit Niklas Luhmann (1984: 44 f.) formulieren, als Struktur, die konditioniert, also Bedingungen setzt, und zwar sowohl für ihre Mitglieder wie auch für ihre Nichtmitglieder, das Publikum. Böick und Schmeer führen die Konsequenzen dieses Sachverhaltes nicht genauer aus, sondern belassen es bei der Feststellung, dass der Ort des Beobachters einer Organisation oftmals selbst wieder eine Organisation ist. Zutreffend ist hingegen ihre Beobachtung, dass die Zeitgeschichtsforschung nicht zwischen Organisation und Institution trennt und daraus eine Vernachlässigung von Phänomenen von „Organisation“ resultiert. Sie wird gleichwohl kaum mit Beispielen unterfüttert, und überdies sind nicht gerade wenige der Einzelbeiträge ihres Bandes durch dieselbe mangelnde Differenzierung gekennzeichnet. Ein entsprechender Hinweis der Herausgeber an ihre Autorinnen und Autoren hätte dazu beitragen können, dies zu vermeiden.

Generell interessieren sich Böick und Schmeer für die Frage, „was Historikerinnen und Historiker eigentlich tun, wenn sie die Geschichte von Organisationen analysieren und (be)schreiben“ (Böick/Schmeer 2020: 12). Um einer Antwort auf die Spur zu kommen, skizzieren sie zunächst den Stellenwert von „Organisation“ in der zeithistorischen Forschung, wie sie ihn sehen. Den Ausgangspunkt bildet ihre Beobachtung, dass nicht zuletzt durch den Boom der Behördenforschung, also jene Aufträge, die Bundesministerien, Länderparlamente, Kommunen, öffentliche Dienstleister und Unternehmen zur Erforschung der NS-Belastung ihres Personals in der Bundesrepublik und der DDR vergeben haben, eine stärkere Beschäftigung mit dem Thema erforderlich geworden ist. Diese Behördenforschung habe dazu geführt, dass eine Hermeneutik des Verdachts entstanden sei, die entsprechenden Bearbeiter könnten in allzu enge Abhängigkeit von ihren Auftraggebern geraten.

Organisationen durch Aufarbeitungsstudien zur NS-Vergangenheit in den Fokus gerückt [13]; Boom einer weitgefächerten Auftrags- und Behördenforschung; beteiligte Zeithistoriker arbeiten sich am Problem der Legitimation ihrer wissenschaftlichen Unabhängigkeit ab; Frage, wie die Forscher damit umgehen, die Geschichte meist noch bestehender Organisationen in deren Auftrag und auf der Grundlage der von ihnen produzierten Quellen zu erforschen, blieb weitgehend ausgeklammert [14]; Momentaufnahme empirischer Omnipräsenz bei theoretischer Unterreflexion; welchen Ort haben Organisationen eigentlich in der jüngsten Geschichte der Geschichtswissenschaft in Westdeutschland eingenommen?; Artikel in „Geschichtliche Grundbegriffe“ [14 f.]; detaillierte Geschichte des modernen Organisationsbegriffs (Ernst-Wolfgang Böckenförde) [15]; dynamisch-aktivistischer Begriffsgebrauch; Organisationsbegriff trotz Böckenfördes Plädoyer nicht zu einem zentralen Analyse- oder Diskussionsgegenstand der deutschen Zeithistorikerschaft geworden [16]; fehlt in Hans-Jürgen Goertz‘ „Grundkurs zur Geschichte“ und in Stefan Jordans „Lexikon Geschichtswissenschaft“; Theodor Schieder und Frage, was Geschichtswissenschaft mit „Organisation“ zu tun hat (1983) [17 f.]; „Bielefelder Schule“ und Organisationen (Parteien, Verbände, Betriebe oder Gewerkschaften) als abgeleitete Transmissionsriemen sozio-ökonomischer Konflikte [19]; Hans-Ulrich Wehler vernachlässigte den Faktor „Organisation“ in seiner Gesellschaftsgeschichte; Hans Mommsens These von der Auflösung bürokratischer Rationalität im NS-Staat [19 f.]; Jürgen Kockas Analyse industrieller Betriebe und Idealtyp des „organisierten Kapitalismus“ [20]; Organisationen als Explanans, nicht als Explanandum [21]; Alf Lüdtkes Alltagsgeschichte und Forderung nach einer radikalen Perspektivenumkehr [21 f.]; Protest der etablierten Sozialhistoriker gegen eine drohende Zerfaserung einer kulturhistorisch orientierten Geschichtswissenschaft [23]; Organisationen in den kulturhistorischen Selbstreflexionen völlig unterbelichtet [25].

Diese Tour d’horizon durch die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft (warum hier eine so auf den Nationalstaat fixierte Perspektive?) folgt deren zentralen Paradigmen bis zum „cultural turn“ in den 1990er Jahren. Sie beginnt mit einer Analyse des einschlägigen Artikels in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“, einen der am wenigsten zitierten Beiträge dieses ansonsten sehr nachgefragten Lexikons (Böckenförde/Dohrn-van Rossum 1978). Gleichwohl interessieren sich Böick und Schmeer nur für den Teil dieses Artikels, der „Organisation“ seit der „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck) im 18. Jahrhundert betrachtet, und nicht für vormoderne beziehungsweise antike Vorläufer. So übergehen sie die entscheidende Pointe dieses Artikels: Dass „Organisation“ (ein Lehnwort aus dem Lateinischen des 14. Jahrhunderts) kein politisch-sozialer Grundbegriff ist, sondern ein (naturwissenschaftlich inspiriertes) Metaphernfeld beinhaltet, das seit der Antike so unterschiedliche Begriffe wie „corpus“, Organismus, das Organische und das Mechanische etc. mit sich führt, und dass Organisationsphänomene alles andere als nur „modern“ sind. Exakt auf moderne Organisationen wollen sie sich aber offenbar beziehen, und das zeigt sich dann auch bei ihrer Würdigung des Organisationsbegriffs in der Soziologie.

Soziologie befasst sich seit mehr als 100 Jahren mit modernen Organisationen [26]; am Anfang war Max Weber [27]; rational-moderne Organisationsform = Bürokratie [28]; Renate Mayntz und Möglichkeit der Organisationssoziologie, Makro- und Systemebene bzw. Mikro- und Handlungsebene miteinander zu verknüpfen [28 f.]; von ihr proklamierte Soziologie der Organisation erlebte seit Anfang der 1970er Jahre rasanten Aufstieg als Disziplin [29 f.]; Niklas Luhmann und Frage, wie es zum Fortbestehen von Organisationen kommt [30]; Anthony Giddens und Neo-Institutionalismus [31 f.]; Versuch eines Mikro-Makro-Links [32]; Ronald Hartz, Matthias Rietzer und Anschluss an Michel Foucault und Pierre Bourdieu zur Schaffung einer diskursanalytisch-kritischen Organisationstheorie [33]; Vergeschlechtlichung von Organisation (Sylvia M. Wilz) [35]; Diskurs, Gedächtnis und Geschlecht als neuere kulturwissenschaftlich geprägte Zugangsweisen zu Organisation.

Es liegt auf der Hand, dass diese Aufzählung angesichts von 100 Jahren Organisationssoziologie (Morgan 2018; Walter-Busch 1996) allzu rudimentär ausfällt. Auffällig ist zudem eine gewisse Beliebigkeit der hier erwähnten theoretischen Ansätze. So haben weder Anthony Giddens noch Michel Foucault oder Pierre Bourdieu eine eigene Organisationssoziologie entwickelt (was nicht heißt, dass man mit ihnen keine Organisationen analysieren kann, aber mit anderen Theorien geht das weit besser). Auch die Erwähnung des Neo-Institutionalismus führt kaum weiter, weil damit das von den Herausgebern so vehement beklagte Problem einer fehlenden Trennung zwischen „Institution“ und „Organisation“ über die Hintertür wieder eintritt. Der wichtige Hinweis auf die Vergeschlechtlichung von Organisation hätte mit vielen Versuchen untermauert werden können, gender theory und Organisationssoziologie zu verbinden, wie es im englischsprachigen Raum in der seit 1994 erscheinenden Zeitschrift „Gender, Work & Organization“ und in den Studien von Rosemary Pringle, Dana M. Britten und Joan Acker geschieht. Folgt man zum Beispiel Ackers (1990) „Theory of Gendered Organizations“, sind für Organisationen fünf Aspekte maßgeblich: die strukturelle Grenzziehung zwischen unqualifizierter Frauen- und qualifizierter Männerarbeit, die symbolische Ebene der spezifischen Männlichkeitskonzeptionen sowohl von Verwaltung als auch Management, die interaktiven Über- und Unterordnungsverhältnisse am Arbeitsplatz, die Wahl geschlechtsangemessener Identitäten durch die Organisationsmitglieder und die jeweiligen Binnenlogiken, die entgegen den meisten Selbstbeschreibungen von Organisationen eben nicht geschlechtsneutral sind.

Geschichts- und Sozialwissenschaften pflegen in der Gegenwart ein schwieriges, kompliziertes Verhältnis [37]; Kim Priemel, Rüdiger Graf und Streit über Rolle der Zeitgeschichtsforschung in Anbetracht der Sozialwissenschaften [38]; Stefan Kühl und Brückenschlag zwischen Zeitgeschichte und Organisationssoziologie [39]; Arbeiten Wolfgang Seibels [39 f.]; darüber hinaus existieren zugleich avanciertere Ansätze zu einer eigenen, dezidiert historischen Theoriebildung in der Analyse von Organisationen [40]; Klaus Türk, Thomas Lemke und Michael Bruch [40 f.]; Bernhard Löfflers Plädoyer für eine Institutionengeschichte in kulturhistorischer Erweiterung [42]; Peter Becker und Verbindung von Organisations- und Alltagsgeschichte [43]; Sören Eden, Henry Marx und Ulrike Schulz und neues Analyseraster zur historischen Analyse von Organisationen [45]; Ulrike Schulz, Stefanie Middendorf und Corinna Unger und Wandlungsprozesse in Institutionen/Organisationen [46]; dennoch ist das Feld der Organisationsgeschichtsschreibung bislang immer noch unterreflektiert geblieben [47].

Böick und Schmeer vermeinen, „Ansätze zu einer eigenen, dezidiert historischen Theoriebildung in der Analyse von Organisationen“ erkennen zu können (Böick/Schmeer 2020: 40 f.), aber ihr einziges Beispiel entnehmen sie der Organisationssoziologie (Türk/Lemke/Bruch 2006). Dabei handelt es sich zwar um ein Buch, das große historische Linien zieht, dies aber größtenteils auf Basis der soziologischen und nicht der historischen Literatur zum jeweiligen Themenkomplex. Im Grunde genommen wissen es die beiden Herausgeber aber auch selbst, dass es bis dato keine historische Theorie von „Organisation“ gibt:

„Die deutsche Zeitgeschichtsforschung verfügt […] über keinen eigenen klar konturierten Organisationsbegriff oder hierauf bezogene, übergreifende (Selbst-)Reflexionen“; hier erste Bausteine eines offenen, integrativen und multidimensionalen Ansatzes, der Organisationen ins Zentrum zeithistorischer Theoriediskussionen stellt [48]; Organisationen lassen sich grundsätzlich als zeithistorische Gegenstände untersuchen, und zwar in ihren vielfältigen Formen im zeitlichen Wandel [49]; Organisationelles soll in Vor-, Hoch- und Postmoderne sicht-, reflektier- und analysierbar gemacht werden; Prozesse des Organisierens, Merkmale der Organisiertheit und Organisate; vier verschiedene „Flughöhen“ der Analyse = 1) Makroebene (Gesellschaften, Großgruppen, Massenorganisationen), 2) Begegnungs- und Aushandlungsprozesse zwischen einzelnen Organisationen, 3) Mesoebene der Organisation (formale Strukturen, informelle Kulturen) und 4) Semantiken der Organisation als Diskursgebilde (Metaebene) [50 f.]; organisationelle Transformations- und Umbruchsprozesse lassen sich vor allen Dingen im Wechselspiel von Krisensituationen und Alltag einfangen [52]; besondere Spezifik von Organisationen als Organisationen wird gerade in Ausnahmesituationen besonders sichtbar; Nicht-Gelingen und Scheitern von Organisationen sollte in den Fokus der historischen Analyse rücken [53]; multidimensionale, selbstreflexive Organisationsgeschichtsschreibung ist vonnöten.

Nun also ihr eigener Vorschlag, den sie als offen (soll heißen: ergänzungsfähig und -bedürftig), integrativ (soll heißen: er umfasst alles, was für die Erfassung des Gegenstands „Organisation“ relevant ist) und multidimensional (soll heißen: er berücksichtigt alle fachwissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit „Organisation“ beschäftigen) verstehen. Als Ausgangpunkt nehmen sie einen Lexikonartikel von Roger Häußling und Gunter E. Zimmermann (2006), den sie bereits weiter oben in der Einleitung ausführlicher gewürdigt haben (Böick/Schmeer 2020: 26 f.). Dieser Lexikonartikel ist selbst eine Zusammenfassung unterschiedlicher soziologischer Ansätze und zeichnet sich dadurch aus, dass er veraltet ist; in der vorletzten Auflage dieses Lexikons ist er gar nicht mehr enthalten und wurde durch eine bessere, moderne Fassung ersetzt (Becker/Brinkmann 2016). Dennoch halten Böick und Schmeer an Häußlings und Zimmermanns Ausführungen fest und unterscheiden zwischen Organisation als 1) Tätigkeit, 2) Eigenschaft eines Gebildes und 3) Produkt (Organisat). Es geht ihnen beim Thema „Organisation“ also um drei Dimensionen von Prozess, Merkmal und Produkt, und diese sollen aus vier analytischen Blickwinkeln betrachtet werden: Auf der Makro-Ebene sollte „den übergeordneten Zusammenhängen von Gesellschaften, sozialen Großgruppen, (Massen-)Organisationen und hiermit verwobenen, übergeordneten Institutionen sowie auch übergreifenden Diskursen nachgespürt werden“, auf der Mikro-Ebene den „konkreten Begegnungs- und Aushandlungsprozessen von Organisationen, ihren einzelnen Mitgliedern (intern) sowie anderen Individuen (extern)“, auf der Meso-Ebene den „gemeinsamen Handlungs- und Deutungssphären von Organisationen als Organisationen mit ihren charakteristischen Wechselspielen von formalen Strukturen und informellen Kulturen“ sowie auf der Meta-Ebene den „übergreifenden Formen gesellschaftlichen Organisations- bzw. Ordnungsdenkens an sich“, also gesellschaftlichen Semantiken von „Organisation“ (Böick/Schmeer 2020: 50 f.).

Der hohe Abstraktionsgrad dieser Formulierungen ist dem Sachverhalt geschuldet, dass ihr Forschungsprogramm mit den herrschenden Paradigmen der Politik-, Sozial-, Alltags- und Kulturgeschichte kompatibel sein soll. Die Multidimensionalität der Analyse von Organisation soll also durch eine Pluralisierung dieser Paradigmen erreicht werden, ohne dass sich die beiden Herausgeber für einen „Königsweg“ entscheiden wollen. Dies ist eine zentrale Schwäche ihres Ansatzes, der letztlich in additiver Beliebigkeit versinkt. Eine der zentralen Errungenschaften von Wissenschaft besteht, jedenfalls nach Gaston Bachelard (1987: 46-58), jedoch gerade darin, mit Früherem zu brechen. Man hätte Böick und Schmeer hier mehr Mut zum Bruch mit den alten Zöpfen der Geschichtswissenschaft und mit den neuesten kulturwissenschaftlich inspirierten Turns gewünscht, um ihre eigene Konzeption klarer zu profilieren. Es steht zu befürchten (und eine Lektüre des gesamten Sammelbandes verstärkt diesen Eindruck), dass sich die postulierte Multidimensionalität als Erkenntnishindernis erweisen wird. Viele Köche können den Brei eben auch verderben.

Schließlich ist auch die Idee der beiden Herausgeber, dass die Charakteristika von Organisationen in Umbruchs- und Krisenzeiten besonders zum Ausdruck kämen (Böick/Schmeer 2020: 52 f.), wenig überzeugend. Warum soll eine Organisation in einer Krise, etwa im Zweiten Weltkrieg, prinzipiell anders (oder „charakteristischer“) funktionieren als im „Normalbetrieb“? Wahrscheinlich bedurfte es im Sammelband einer zeitlichen Begrenzung, damit sich das Thema nicht ins Uferlose auswuchs. Und diese sollte dann das krisenhafte 20. Jahrhundert sein. Generell oszilliert die Einleitung zwischen zeitlicher Schwerpunktsetzung einerseits und Öffnung des Untersuchungshorizontes andererseits. Einmal soll die Organisationsforschung Vormoderne, Moderne und Postmoderne umfassen, ein anderes Mal nur das 20. Jahrhundert. Diese Unentschiedenheit ist fast schon Programm. Auf jeden Fall lässt sich an ihr die erste grundlegende Differenz zwischen dem eingangs betonten „Ich“ und den „Anderen“ festmachen. Dieses „Ich“ kennt im Gegensatz zu den „Anderen“ bei der historischen Organisationsforschung keine Begrenzung auf einen festen Zeitraum. Es versteht „Organisation“ als evolutionäre Errungenschaft, also als äußerst unwahrscheinliche Strukturänderung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt (es wird zu klären sein, wann und wo) auf der Referenzebene „Gesellschaft“ etabliert wird und ohne die diese Referenzebene seither nicht mehr auszukommen in der Lage ist.

Der zweite Unterschied: das „Ich“ argumentiert im Gegensatz zum „Anderen“ in der historischen Organisationsforschung nicht multidimensional oder multiparadigmatisch. Es wird einen (und nur einen!) Ansatz zu operationalisieren versuchen und in seinen Konsequenzen ausleuchten. Der dritte Unterschied: das „Ich“ wird dabei genuin historisch und nicht soziologisch vorgehen, soll heißen, es wird Informationen (die ältere historische Forschung nannte dies noch Quellen) aus der Vergangenheit aufspüren und interpretieren und nicht nur Sekundärliteratur (Ernst 2013: 9-27). Und der vierte Unterschied: Das „Ich“ sucht Organisationen in ihrem Wandel in der Zeit auf, und nicht als bereits fertige Gebilde. Dazu wird es erforderlich sein, die drei zentralen Begriffe Struktur, Ereignis und Prozess neu zu konzeptualisieren und systematisch miteinander zu verbinden. Historische Organisationsforschung eben.

Referenzen

Acker, Joan: Hierarchies, Jobs, Bodies. A Theory of Gendered Organization, in: Lorber, Judith/Farrell, Susan A. (eds.): The Social Construction of Gender, Sage: London 1990, S. 162-179

Bachelard, Gaston: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1987

Baecker, Dirk: Beobachter unter sich. Eine Kulturtheorie, Suhrkamp: Berlin 2013

ders.: 4.0 oder Die Lücke, die der Rechner lässt, Merve: Leipzig 2018

Becker, Karina/Brinkmann, Ulrich: Artikel „Organisation”, in: Kopp, Johannes/Steinbach, Anja (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie, 11. Aufl., Springer: Wiesbaden 2016, S. 263-270

Böckenförde, Ernst-Wolfgang/Dohrn-van Rossum, Gerhard: Artikel „Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper”, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck, Bd. 4, Klett-Cotta: Stuttgart 1978, S. 519-632

Böick, Marcus/Schmeer, Marcel (Hg.): Im Kreuzfeuer der Kritik. Umstrittene Organisationen im 20. Jahrhundert, Campus: Frankfurt am Main/New York 2020

Ernst, Wolfgang: Signale aus der Vergangenheit. Eine kleine Geschichtskritik, Wilhelm Fink: München 2013

Häußling, Roger/Zimmermann, Gunter E.: Artikel „Organisation”, in: Schäfers, Bernhard/Kopp, Johannes (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie, 9. Aufl., Springer: Wiesbaden 2006, S. 218-221

Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1984

Morgan, Gareth: Bilder der Organisation, Schaefer-Poeschel: Stuttgart 2018 [ursprgl. in deutscher Erstausgabe erschienen bei Klett-Cotta: Stuttgart 1997]

Türk, Klaus/Lemke, Thomas/Bruch, Michael: Organisation in der modernen Gesellschaft. Eine historische Einführung, 2. Aufl., Springer: Wiesbaden 2006 [ursprgl. erschienen: 2002]

Walter-Busch, Emil: Organisationstheorien von Weber bis Weick, Fakultas: Amsterdam 1996

Nationalsozialistische Macht, ad 1

Warum redet eigentlich heute kaum jemand mehr von „Macht“, wenn vom Nationalsozialismus die Rede ist? „Herrschaft“, „Terror“, „Gewalt“, „Willkür“, „Massenmord“, „Genozid“, das sind die bekanntesten Begriffe, die in der Forschung gemeinhin benutzt werden, um die Alltagspraktiken des NS-Staates nach 1933 auf den Punkt zu bringen. Oder, widmet man sich der konsensuellen Seite des Themas, dann eben „Volksgemeinschaft“, „Konsens“, „Selbstmobilisierung“, „Ermöglichung“ „Selbstermächtigung“ (darin steckt immerhin etwas „Macht“) und viele andere. Die These, die in der folgenden Serie von Blog-Eintragungen vertreten und in immer neuen Varianten umkreist werden wird, ist eine vergleichsweise einfache: all diese Begriffe können ersetzt werden durch ein neues Forschungskonzept „Nationalsozialistische Macht“. Jedoch geht es dabei nicht allein um eine „Arbeit an Begriffen“, sondern um eine Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, die um ein spezifisches Konzept von „Macht“ kreist. Ich beginne mit einem Exzerpt des Buches von Rohrer (2006).

1. Einleitung [11-33]: Gab es Machtfülle Kochs, wie in Literatur behauptet wird, in der Realität wirklich? [13]; für die Beurteilung dieser Frage sagen Befunde wie „Polykratie“ etc. noch nichts aus [15]; Postulat der Machtfülle Kochs ist in Zweifel zu ziehen [19]; es sollen a) auf breiter Quellengrundlage empirische Einzelfragen geklärt werden und b) auf dieser Basis die bislang undifferenziert Koch zugeschriebene Macht als „nationalsozialistische Macht in Ostpreußen“ neu gefasst werden [20]; Peter Hüttenberger, Die Gauleiter, verzichtete ganz auf eine Bestimmung von „Macht“ [21]; Konzept von „Macht“ in Anlehnung an Niklas Luhmann und Heinrich Popitz als drei Einflussformen = Autorität, positive und negative Sanktion [21 ff.]; Macht ist keine Eigenschaft einer Person, sondern wird ihr von anderen zugeschrieben [25]; Machtgefüge ist Summe aller Machtzurechnungen; erwähnte Einflussformen treten in Interaktion, Organisation und Gesellschaft auf [26]; systemtheoretische Ansätze analysieren im wesentlichen Macht in demokratischen Systemen [27]; drei Dimensionen = Form, Ebene und Zeit [28]; Vorgehen in der Art von Fallstudien, keine chronologisch lückenlose Beschreibung; Arbeit erhebt nicht Anspruch einer Gesellschaftsgeschichte Ostpreußens; stellt auch keine Erprobung der systemtheoretischen Machttheorie dar, sondern Analyse von Macht- und Einflussprozessen [33].

2. Ein neuer Gauleiter für die NSDAP [35-76]: erfolgreich war ein Gau lediglich, wenn er gute Wahlergebnisse erzielte [35]; Politik nach Niklas Luhmann = Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen [36]; in Ostpreußen Dominanz der DNVP [37 f.]; Korridor [38 f.]; Abwanderung aus Ostpreußen [43]; starke Stellung des Großgrundbesitzes [45]; stärkster Verband Ostpreußens war Landwirtschaftsverband [48]; geringe Kompetenzen des Oberpräsidiums zwischen PrMindI und Reg.Präs. [51]; „Bollwerk-Syndrom“ Ostpreußens [53]; Massenmedien = politische Parteien können beobachten, wie ihre Konkurrenz interpretiert wird [54]; Meinungsführerschaft = Pfarrer, Dorflehrer und Großgrundbesitzer [56]; erste Zusammenschlüsse von NS-Aktivisten in größeren ostpreußischen Städten seit 1921 [58]; 1. März 1925 = Ortsgruppe Königsberg durch Waldemar Magunia und Wilhelm Stich gegründet [61]; frühe Spaltung in NSDAP [63]; Erich Koch wurde am 3. September 1928 auf Gregor Straßers Vorschlag neuer GL [64]; Biographie Kochs [66-74]; ostpreußischen NSDAP zu dieser Zeit nicht in politischen Entscheidungsprozess integriert [75].

3. Die ostpreußische NSDAP bei der Provinzial- und Kommunalwahl 1929 [77-114]: Partei wuchs mit Hilfe des Weimarer Systems [77]; Parteisatzung vom Mai 1926 gab Koch Freiheiten bei der Gestaltung des ihm anvertrauten Gaues; Mitgliedschaft; Stelle und Entscheidung sind für Organisation entscheidend (Niklas Luhmann) [80]; starke Stellung von GGeschF Georg Heidrich im Gaustab [80 f.]; Einführung der Bezirksgliederung (9/1929) [82 f.]; Drohung mit Auflösung von Ortsgruppen [84]; Trennung zwischen PO und SA; Nebenorganisationen der PO entglitten der Aufsicht der GL [86]; HJ erfasste Jugendliche von 12-18 Jahren [87 f.]; Mitgliedsbeiträge und Opferringe [89 f.]; Finanzierung von GL Koch [90]; Steigerung der Propagandatätigkeiten der NSDAP im Gau [92]; Gauzeitungen [93]; Schaffung einer NS-Öffentlichkeit [95]; Provinzial- und Kommunalwahl vom 17. November 1929 und Propaganda gegen den Youngplan [96 ff.]; Antisemitismus eher im Hintergrund [99]; Doppelmitgliedschaften NSDAP – andere „völkische“ Verbände, z. B. Stahlhelm [104 f.]; 17. November 1929 = NSDAP 4,3 Prozent oder drei Mandate im Provinziallandtag [107]; war großer Erfolg [109]; zunehmende Ausrichtung der Partei auf den GL [110]; Ende 1929 hatte ostpreußische NSDAP in 50 Ortsgruppen 1.961 Mitglieder [112].

4. Niederlage in Danzig und Wahlsieg in Ostpreußen [115-152]: mit der Reichstagswahl vom 14. September 1930 wurde NSDAP mit 22,5 Prozent plötzlich die stärkste Partei im Wahlkreis Ostpreußen [115]; wirtschaftliche Probleme Ostpreußens [116 ff.]; RL übertrug Koch Ende 1928 Auftrag, GL Danzig neu zu ordnen [121]; GGeschF und SA-Führer Bruno Fricke [126 f.]; enormes Wachstum der SA seit 1929 [128]; 14. September 1930 in Ostpreußen = 2.799 Pgs. und 218 Ortsgruppen [130]; Pgs. des Memelgebietes in OL Tilsit organisiert [131]; wichtige Rolle der NSDAP-Bezirksleiter [132 f.]; „Wachstum und Ausdifferenzierung der ostpreußischen NSDAP trugen dazu bei, immer weitere Teile der Bevölkerung zu erreichen“ [134]; keine Spannungen zwischen SA und PO in Ostpreußen [137]; permanente Aktivität und Dynamik [138]; Anträge der NSDAP im Provinziallandtag auch durch DNVP gebilligt [140 f.]; in Danzig gelang es nicht, die Dynamik der Frick-Anhänger zu stoppen [144 f.]; Mitte Oktober 1930 = Ernennung von GL Albert Forster [145]; NSDAP-Wahlsieg vom 14. September 1930 wurde in Ostpreußen medial als Triumph transportiert [148]; drei Reichstagsmandate [149]; Koch kombinierte viele Chancen auf Zurechnung von macht [151; ihm fehlten nur zwei Monate zur Einverleibung von Danzig in seinen Herrschaftsbereich [152].

5. Parteiorganisation und Gegenmacht: Der Fall Georg Heidrich [153-189]: mit personellem Anwachsen und organisatorischer Ausdifferenzierung nahm auch Anzahl der Partikularinteressen und damit Komplexität der NSDAP zu [154]; Partei musste sich organisatorisch auffächern, um Wählerschaft nach dem 14. September 1930 dauerhaft an sich binden zu können [157]; Anstieg der Mitgliederzahl bis Ende 1931 [158]; Gaukommissariate an Stelle der Kreise und Bezirke Ende April 1931 eingerichtet [158 f.]; waren hauptamtlich beschäftigt [159]; Beamte sollten ihre Parteifunktionen niederlegen, um berufliche Stellung zu erhalten [160, FN 26]; soziale Struktur der GL Ostpreußen [161]; Auflösung von OL [162]; amtsenthobene Unterführer weiter in der Parteiarbeit eingesetzt [162]; RL = Zentralisierungsmaßnahmen [163]; regionale Relevanz entschied über Einfluss und Gewicht einer Nebenorganisation der NSDAP [164]; Verhältnis der GL zum Agrarpolitischer Apparat [164 f.]; Bedeutung der ostpreußischen SA [166 f.].

– 15. April 1931 = GL verloren Drohung mit Parteiausschluss gegenüber SA-Angehörigen [168]; Trennlinie zwischen PO und SA in Fragen der Finanzierung [168 f.]; SA und deren Teilnahme am „Grenzschutz Ost“ [169 ff]; erste Ausgabe der „Preußischen Zeitung“ (1.1.1931) = „Juda auf dem Rückzug“ [171]; Juli 1931 = NSDStB erreicht an Königsberger Universität 52 Prozent der abgegebenen Stimmen [173]; antikatholische und -polnische Verlautbarungen [174]; Ablehnung der NSDAP im katholischen Ermland [174 f.]; Auseinandersetzungen um GAL Georg Usadel und seine Clique [176 ff.]; Propaganda der NSDAP gegen den „reaktionären“ Stahlhelm [179]; Schlichtungsverfahren [180]; Kontakte Koch, Strasser und „Tat-Kreis“ [184 f.]; „Gegenmacht“ Heidrichs; 1.Okotber 1931 = Beurlaubung Heidrichs von seinen Parteiämtern [186]; Koch lebt bei Wehrkreispfarrer Ludwig Müller [187]; Vertrauensverlust auf der OL-Ebene [188]; Paradoxie der Macht = Spitze der Organisation wird von außen Macht zugeschrieben, die sie selbst nicht wahrnehmen kann [188 f.].

6. Die Auflösung der Ortsgruppe Insterburg [191-229]: NSDAP erreichte am 31. Juli 1932 47,1 Prozent der Stimmen in Ostpreußen [191]; schlechte wirtschaftliche Lage radikalisierte die Bevölkerung [193]; Landwirtschaftskammerwahlen im April 1932 = 48 von 76 Sitzen für die NSDAP [195]; Koch ließ bei Reichswehrangehörigen illegal Waffen ankaufen [196]; „polnische Gefahr“ [197]; Wahl zum Preußischen Landtag (24. April 1932) = 45,6 Prozent für die NSDAP in Ostpreußen [198]; Mitgliederwachstum [199]; fortgesetztes Spannungsverhältnis zwischen SA und PO und keine integrierende Wirkung der Wahlerfolge [200]; SA wollte konservative Wende und intensivere Zusammenarbeit mit DNVP [201]; SA-Führer Lietzmann wollte, dass er Koch übergeordnet wird [202]; Kritik der Ortsgruppe Insterburg an einer Personalentscheidung Kochs in der Kreisinstanz (Gaukommissar) [203]; OL lehnte Kochs Entscheidung ab und stellte damit das „Führerprinzip“ in Frage [204]; Strasser und Zentralisierung der PO im Juni/Juli 1932 [206 f.]; Stv.GL Großherr löst OL Insterburg auf [208]; Streit um Besetzung der Reichstagswahlliste Ostpreußen [208 f.]; Koch drohte bei Hitler vergebens mit Rücktritt [209]; „Königsberger Kreis“, dessen sich Koch bedient [212 f.]; Terrorwelle der SA im August 1932 [215 f.]; Parteiausschluss einiger hochrangiger Mitglieder der OL Insterburg [217]; Verhältnis zu Deutschen Christen [222 f.]; Krise um von Buttlar [225]; „Geist des Hasses und der Vernichtung“ als „bolschewistische Symptome“; Straßer-Krise vom 9. Dezember 1932 [227 f.].

7. Profiteure der „Machtübernahme“ in Ostpreußen [231-282]: „Machtfülle“ Kochs bedarf zeitlicher Differenzierung [231]; bisheriger Machtkreislauf wurde an Schaltstellen der Kontrolle unterbrochen = nicht mehr Öffentlichkeit, sondern „Führerprinzip“ und Ämter/Personen [232]; „Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat“ vom 1. Dezember 1933 brachte eine Unterordnung der Partei unter den Staat [233]; NSDAP nunmehr nur ein Element unter vielen; Mitgliederwachstum und Ausdifferenzierung [235 f.]; Strukturwandel in GL [236]; Besetzung hauptamtlich (ehrenamtliche OL) [237]; Erpressung von Geldern von Juden [238]; Versuch der Durchdringung der Gesellschaft (Inklusion/Exklusion) [240]; Struktur der DAF [241 f.]; NSV und Leitung in der Hand eines ehemaligen SPD-Mitglieds [243 f.]; Agrarpolitischer Apparat und Landvolk [245 ff.]; Koch am 2. Juni 1933 zum OPräs. ernannt [247]; Aufgabenfestlegung durch Gesetz vom 15. Dezember 1933 [248 f.]; Ablösung und Stellung der RegPräs. [250 f.]; Ablösung von Landräten und Fluktuationen [252 ff.]; kaum Elitentausch auf kommunaler Ebene [255]; Rolle Fritz Dietlof von der Schulenburgs [255 f.]; Veränderungen unter den Abgeordneten des Reichstages für den WK I [257 f.]; Koordinationsbedarf zwischen OPräs. und GL wurde dadurch vermindert, dass Gau- und andere Verwaltungsgrenzen identisch waren [260 f.]; Kehrseite der Ämterkumulationen = Möglichkeiten, Informationen zu verarbeiten und Entscheidungen zu treffen, wachsen nicht mit [262].

– wirtschaftliche Situation Ostpreußens 1932/33 [262 f.]; „Ostpreußenplan“ [264]; Straßenbau und Meliorationen [266]; KL für Propaganda zuständig [267]; Koch als Türöffner zu Berliner Ministerien und den dortigen Geldtöpfen [268]; knüpfte offenbar an Ideen Gregor Strassers vom „nationalen Sozialismus“ an [269]; kollektivistische Ideen stießen allerdings auf Ablehnung des RNSt [269]; Kritik an Koch, er wolle „absolutistische Parteidiktatur nach bolschewistischen Mustern“ [270]; Auseinandersetzungen P.O. – Agrarpolitischer Apparat/NS-Landvolk [270 f.]; Kritik Kochs an Einsetzung von reaktionären Kreisbauernführern [272]; Mitte September 1933 Wechsel an Spitze der ostpreußischen SA [273]; RNSt war P. O. weitgehend entglitten [274 f.]; Ley und Heß kümmerten sich um „Problem Koch“ [275]; „Ostpreußische Zeitung“ als Organ der Landesbauernschaft beziehungsweise von SA und SS [276]; 27. Dezember 1933 = Gründung der Erich-Koch-Stiftung [279]; Unterlag nicht der Kontrolle des RSchM, da von Koch in Funktion als OPräs. gegründet [280]; für Ausübung von Einfluss und Macht bedeutete „Gleichschaltung“ 1933/34 fundamentalen Bruch [281]; Kompetenzen gemäß „Führerprinzip“ zu den Spitzen der Organisationen verlagert [281]; zusätzliche Einflusschancen waren jedoch nicht ohne Kosten zu haben; Mitte 1933 = „Gefüge Koch“, das weit über eine Gauclique hinausging [282]; darf nicht als Machtblock bezeichnet werden, in dem es keine Gegenmacht gab.

8. Der „Röhm-Putsch“ in Ostpreußen [283-322]: bei Aktion vom 30. Juni 1934 stand Versuch der NS-Führung im Vordergrund, Gewährenlassen durch Bevölkerung und traditionelle Eiten zu sichern [283]; Röhms Ziel = SA-Heer [284]; Wechsel in ostpreußischer SA-Führung im Frühjahr 1934 = Heinrich August Schoene [285]; zugleich entfernte sich SS immer weiter von Gau- und Provinzführung [286]; Verselbständigungsprozess der Polizei brachte sie in Gegnerschaft zu den Gauleitern [287]; herausragende Rolle Erich von dem Bach Zelewskis, dem drei SS-Abschnitte unterstanden [287 ff.]; Quote der Parteimitgliedschaft ostpreußischer SS-Männer lag signifikant unter dem Reichsdurchschnitt [290]; Darré und Göring gaben 1934 an, sich dienstlich nicht mehr gegen Koch als OPräs. durchsetzen zu können [291]; Spannungen zwischen Gau-/Provinzführung und Landesbauernschaft [291 f.]; Koch verlangte, RNSt in P. O. einzugliedern [293]; Verbot von Zeitungen und „Kampf um Öffentlichkeit“ [295]; Netzwerk um von den Bach als Gegenentwurf zu Gefüge Koch [297]; sehr gutes Verhältnis zwischen Reichswehr und SA im WK I vor allem beim „Grenzschutz“ [298]; wäre es am 30. Juni 1934 um die Ausschaltung sozialrevolutionärer Elemente gegangen, wären Koch und seine Anhänger gefährdet gewesen [299]; Buch Kochs zum „nationalen Sozialismus“ und „Ostorientierung“ [300]; Zuständigkeit der GL Ostpreußen für das Memelland seit Mai 1933 [302]; Kownoer Prozess gegen Memeldeutsche [303 f.].

– 30. Juni 1934 vor allen Dingen in Schlesien eigendynamische Mordaktion [304 f. ]; Heß’ Rede am 8. Juli 1934 beim Gauparteitag der ostpreußischen NSDAP [305]; in Ostpreußen blieb es ruhig und SA war diszipliniert; Bach sah Koch als „verdächtig“ an [307]; dieser blieb jedoch unbehelligt [309]; Bach ließ einen seiner Konkurrenten aus der SS ermorden; weder Reichswehr noch die beiden christlichen Kirchen protestierten gegen Aktion vom 30. Juni 1934 [311]; „Säuberung“ der SA; Landesbauernschaft nahm 30. Juni 1934 zum Anlass, Widerstand gegen Koch zu verstärken, indem sie ihn als Anhänger Gregor Straßers denunzierte [312 f.]; Gerücht, Koch sei als OPräs. abberufen worden, wurde lanciert [313]; katholisches Milieu distanzierte sich immer weiter vom NS-Regime [313 f.]; Darré setzte Hitler Ende Juli 1934 unter Druck und forderte eine definitive Entscheidung [314]; Besprechung 14. Juli 1934 Hitler, GL, Darré und Landesbauernführer; Hitler entschied sich für Koch und trug diesem auf, im Gau Ostpreußen unter allen Umständen für Ruhe zu sorgen [316]; daraufhin „kleine Säuberung“ im RNSt durch Darré und Unterdrückung der Konflikte [316 f.]; „Führerentscheid“ auch durch Göring und Heß unterstützt [321]; SA und Landesbauernschaft waren von der Spitze her befriedet worden [322].

9. Die Oberpräsidentenkrise 1935 [323-369]: Koch wurde am 26. November 1935 als OPräs. beurlaubt und am 22. Dezember 1935 durch „Führerentscheid“ wieder eingesetzt [323]; Auslöser Denkschrift Paul Wolffs, des Personaldezernenten der Königsberger Stadtverwaltung [323 f.]; Vorwürfe Strafvereitelung und Korruption des „Gefüges Koch“ [325]; Kriterium der Auswahl von Personen in der P.O = uneingeschränkte Folgebereitschaft [327]; Druck auf Beamtenschaft durch RDB in Ostpreußen [328 f.]; Ostpreußenausschuss als Unterausschuss des RVA [331 f.]; KL-Fluktuationen 1933-1935 [333]; Ostpreußen verfügte über zweithöchste Dichte an PL im Verhältnis zu den Pgs. in der NSDAP [335]; Finanzknappheit der P.O. führte dazu, dass viele Mitarbeiter Kochs in gut dotierte staatliche Stellen wechselten [336]; sechs Personalunionen zwischen KL und Landrat [336]; Sozialstruktur beider Funktionärsgruppen sehr unterschiedlich.

– Wolff übergab seine Denkschrift an Göring persönlich [339]; Koch betrieb Ablösung Bachs und eigenes Zugriffsrecht auf Gestapo [340]; Auseinandersetzung um „Königsberger Rede“ Schachts, bei der Koch applaudierte und Bach ostentativ den Saal verließ (18.8.1935) [341]; Himmler an Buch (1.9.1935) und Kritik an Willkürherrschaft Kochs [342]; SS in Ostpreußen war mit Koch wegen dessen „Ostorientierung“ verfeindet [342 f.]; Klage über Eingreifen Kochs in Litauen, das zum Kownoer Prozess geführt habe [344 f.]; Gründung von Gau- und Kreisgrenzlandämtern in P.O. [345]; Heß’ Anordnung im Oktober 1935, dass niemand außer Koch mehr mit Deutschen im Memelland verhandeln dürfe [346]; Bach ließ einige hochrangige Mitarbeiter Kochs und der P.O. verhaften [346 f.]; Kochs Vermittlungsversuche im protestantischen „Kirchenkampf“ [347 f.]; P.O. und SS in Ostpreußen kaum verflochten [350]; 21. November 1935 = Handgemenge zwischen Koch und Wolff im OPräs. woraufhin letzterer ins Gestapo-Quartier flüchtete [350 f.]; Bach informierte Göring und Himmler von den Vorfällen [351].

– 26. November 1935 = Beurlaubung Kochs durch Telegramm Görings [352]; Untersuchungen Bachs im Königsberger Polizeipräsidium [352 f.]; Koch dabei nicht nur belastet, sondern auch Entlastung durch Fritz-Dietlof von der Schulenburg [353]; Koch eilte nach Berlin zu Heß und quartierte sich bei Reichsbischof Müller ein [354]; Heß war treibende Kraft bei der Entlastung Kochs [355]; 22. Dezember 1935 = Wiedereinsetzung durch „Führerentscheid“ [357]; Gegensatz zwischen „Gefüge Koch“ und SS zentrale Ursache der OPräs.-Krise [358]; Hitlers Entscheidung größtmöglicher Vertrauensbeweis [359 f.]; prominentestes Opfer der Krise war Bach, der versetzt wurde [363 f.]; Reorganisation der SS und Einsetzung von Wilhelm Redieß [364 f.]; auch Koch nahm personelle Kurskorrekturen vor [366]; Görings Besuch in Königsberg am 12. März 1936 war „Canossa-Gang“ [367]; „Führerentscheid“ beschädigte weder Himmler noch Göring [368]; Kochs Chancen auf Ausübung von Macht durchbrachen jetzt Schwellenwert [369]; danach ging es nicht mehr um Absetzung, sondern nur noch um Eindämmung seiner Kompetenzanmaßung.

10. „Alte Kämpfer“ vor Gericht [371-400]: Parteigerichtliche Aufarbeitung der OPräs.-Krise im Jahre 1936 [371]; Gaugerichte keine Instrumente, mit denen der GL beliebig schalten und walten konnte; GGerL Oppermann betrieb ordnungsgemäße Parteigerichtsverfahren sowohl gegen Gegner Kochs wie auch gegen Befürworter (Ehrengerichtsverfahren) [372]; Koch konnte sich auf genehme Urteilsfindung seines Gaugerichts verlassen [373]; Oppermann gehörte zum „Gefüge Koch“ [375]; generelle Bemerkungen zur Parteigerichtsbarkeit [375 ff.]; Rolle der Justiz im Parteigerichtsverfahren [378 f.]; Parteigerichtsverfahren und Beamte [381 f.]; Verflechtung von parteigerichtlichen und staatlichen Gerichtsverfahren [383 f.]; erklärtes Ziel der GL war die Aburteilung Paul Wolffs [385]; Antrag des Parteigerichtsverfahrens im November 1936 [385]; „Ehrengerichtsverfahren“ gegen GAL Preuß [386]; Koch drohte mit Aufgabe seines GL-Postens, falls Dienststrafverfahren gegen Wolff nicht durchgeführt würde [387]; am 15. Oktober 1937 wurde er mit Parteiausschluss bestraft [388]; Dienststrafverfahren 1940 niedergeschlagen [389]; Rolle Ralf Brockhausens als Beauftragter der Parteileitung [390 ff.]; setzte sich für „Sauberkeit“ ein [392]; Beispiel Hermann Schoepe [393 f.]; Koch brachte einige in die Schusslinie geratene PL woanders unter [395]; Zahlen für Verfahren beim Gaugericht Ostpreußen; Gaugericht war in OPräs.-Krise einzig kalkulierbare Instanz für Koch [399]; er konnte als GL Verfahren einleiten und verfügte nicht zuletzt dadurch über eine gewisse zeitliche Kontrolle des Ablaufes [400].

11. Die Erich-Koch-Stiftung [401-450]: Stiftungsvermögen Dezember 1944 = 331 Millionen RM [401]; Bajohr = Beispiel für Provinznepotismus und Günstlingswirtschaft; Kontrolle über Verlage und Zeitungen immer weiter ausgedehnt [401 ff.]; durch Kombination verschiedener Druckmittel [404]; auch Zerschlagung der Kommunikationsmöglichkeiten der Gegner durch Übernahme nicht nationalsozialistischer Zeitungen [405]; katholisches Milieu im Ermland vermochte sich dem zu entziehen [406 f.]; Tagespresse in Ostpreußen konzentrierte sich zu erheblichem Teil in Erich-Koch-Stiftung [409]; Überführung bürgerlich-nationaler Zeitungen zwischen 1934 und 1937 [410 f.]; Gewinne der Stiftung ermöglichten Erwerb immer neuer Unternehmungen [412]; Stiftung als gemeinnützig anerkannt und steuerfrei [413]; Expansion in Bereiche jenseits von Druckereien und Verlagen [415]; vor allem durch Erpressung [418]; Kochs Denkschrift „Ostpreußenprogramm“ (27.10.1936) [421]; Beginn der „Arisierungen“ (1933-1937) [434 f.]; Ende 1937 Radikalisierung [436]; Rolle der GWB [437]; Erich-Koch-Stiftung nach dem 9. November 1938 in „Arisierungen“ verwickelt [440]; weiterer Ausbau der Stiftung im Zuge der NS-Expansion [442 f.]; war vielfältiges Instrument zur Ausübung von Einfluss und Macht [449]; nicht nur wirtschaftskriminell, sondern Bestandteil der ostpreußischen Wirtschaft [449].

12. Inszenierung und Realität [451-496]: Parteitag des Gaues Ostpreußen im Juni 1938 [451]; diente Einbindung und Disziplinierung der beteiligten Organisationen und Personen [452]; war an den Reichsparteitagen der NSDAP orientiert; Heß-Rede zur Zusammenarbeit zwischen Partei und Wehrmacht [454]; Gauparteitag ist unter kommunikativen Aspekten zu sehen [456]; Koch im Mittelpunkt der Inszenierung [457]; „Festschrift zum Gautag 1938 der NSDAP“ [459]; Frage, ob Gegenmacht gegen Koch dauerhaft stillgelegt wurde [460]; Unterstützung Kochs durch die Reichsebene [461]; PO war zentrale Stütze des „Gefüges Koch“ [462]; soziale Struktur der GL Ostpreußen [463 f.]; Stv. GL Großherr = Führung der NSDAP [464]; Waldemar Magunia, GAL für die DAF [466]; Verhältnis Koch-SS-Komplex [468 f.]; HSSPF Wehrkreis I war Koch als OPräs. unterstellt (für das Reich einzigartig) [469]; Entwicklung des Polizeiapparates [470 ff.]; Entmachtung der SA [475 f.]; Konflikte zwischen Partei und Wehrmacht [476 ff.]; Koch und das zweite RVK-Gesetz [479 f.]; Landräte-Korps [482-486]; Personen des „Gefüges Koch“ rückten immer weiter in Stellen staatlicher Behörden ein [486]; bei Provinzialverwaltung bestand höchste personelle Kontinuität [487]; „Ostpreußenplan“ und ökonomische Entwicklung [489-492]; NSV und WHW als Maschinen sozialer Integration [494]; Sopade-Bericht vom September 1938 zur Haltung der ostpreußischen Bevölkerung [495]; Wehrmacht, SS und Gestapo konnten im Zeichen der Expansion Provinzführung die Stirn bieten [496]; Gegenmacht nur in labiler Form stillgelegt.

13. Expansion nach Memel [497-532]: Rückgliederung des Memellandes (150.000 Einwohner) am 22. März 1939 [497]; AA und „evolutionäres Konzept“ [499]; im Oktober 1935 erteilte Heß erteilte Koch alleinige Zuständigkeit für das Memelgebiet [501]; VoMi und Verhältnis zu GL Koch [503]; 11. Dezember 1938 und Wahl zum memelländischen Landtag [505]; Propaganda des Memeldeutschen Kulturverbandes mit deutschem Generalkonsulat in Memel abgesprochen; der MKV bekannte sich zum Antisemitismus (in älterer Literatur abgestritten) [506]; Struktur des MKV glich sich an NSDAP an [508]; kaum Einfluss Kochs oder anderer ostpreußischer Stellen auf „Rückgliederung“ [509]; Einfluss von VDA und VoMi [510 ff.]; Ultimatum Ribbentrops vom 20. März 1939 [513]; Übernahme der Exekutive am 23. März 1939 [514]; Koch als OPräs. zum Überleitungskommissar bestimmt [515]; 1. Mai 1939 = Reichsrecht [516]; Überführung des Memellandes in Regierungsbezirk Gumbinnen; Besetzung der Landratsstellen [517]; Aufbau der NSDAP ohne ROL Ley [517 f.]; Rolle Neumanns [520 f.]; wirtschaftliche Rückgliederung [522]; Überleitungskommissar Willy Bethke und die „Arisierungen“ [526]; Koch hatte sich offenbar bei der Rückgliederung bewährt; Memelland wurde Teil des „Gefüges Koch“ [531]; dessen Stabilität erhöhte sich durch die Rückgliederung.

14. Schlussbemerkung [533-547]: zentraler Mechanismus für Verteilung von Einfluss und Macht im NS-Staat war Führerprinzip [533]; Kern der NS-Macht in Ostpreußen waren formale Kompetenzen [534]; Spielraum Kochs durch die organisatorische Ausdifferenzierung der NSDAP nach 1933 eingeengt; Besetzung von Stellen und die Entscheidung über Personen sind Kernelemente allen Einflusses und aller Macht [536]; „Gefüge Koch“ = keine Hausmacht oder gar Clique, sondern Bewährung als Kriterium [537 f.]; Koch war bei Personalentscheidungen nur dann beteiligt, wenn sie nach oben vermittelt werden mussten [539]; Einflussmittel = Sonderlage Ostpreußens, Geld und Repression [541 ff.]; letztere diente zur Symbolisierung von Macht [543]; mit „Machtfülle Kochs“ erfährt man nur wenig über den NS in Ostpreußen; Gegenmacht zu Koch in Ostpreußen = SA und Reichsleitung [544 f.]; Stilllegung von Gegenmacht nach der Krise vom Winter 1935 [546]; von Vorstellung fester Machtblöcke muss Abschied genommen werden, und damit auch von Polykratiemodell [547].

Allgemeine Bemerkungen: Rohrers Ansatz implizit Ent-Personalisierung der NS-Forschung, d.h. Geschichte kann nicht mehr aus dem „Willen“ einzelner Subjekte heraus erklärt werden; es muss unterschieden werden, ob man von Interaktions-, Organisations- oder Gesellschaftsmacht spricht; Bruch mit Max Webers Machtkonzeption eines Bewirkens von Wirkungen; stattdessen Luhmanns Systemtheorie und Umstellung auf systemtheoretische Begrifflichkeiten; Hinweis, dass Personalunion auch schwächen können, da sie den Koordinationsbedarf erhöhen, ist sehr wichtig [262]; Verrechtlichungsprozesse im parteigerichtlichen Verfahren werden betont, und unterschwellig auch Faktor Zeit [400]; einige Zusammenhänge, z. B. die Geschichte der Erich-Koch-Stiftung, ziehen sich über mehrere Kapitel [413].

Spezielle Bemerkungen: Figur der „Stilllegung von Gegenmacht“ wird nicht ganz klar [460, 488 u. 546]; kann sie theoretisch überhaupt stillgelegt werden?; Aufstieg der NSDAP in Ostpreußen und deren Wahlerfolge werden nicht erklärt [115]; Kochs Rolle in Danzig wird nicht klar. Will er wirklich dessen Einverleibung und wenn ja, warum scheitert er? [152]; warum wurde aus ihren Ämtern enthobene Unterführer weiter in Parteiarbeit eingesetzt? [162]; Unterschätzung des Antisemitismus als Agitationsinstrument [z. B. 99, 171, 174]; weshalb sich Koch nach Straßers Rücktritt vom 8. Dezember 1932 weiter halten konnte, ist unklar; „Führerentscheid“ vom Juli 1934 zugunsten Kochs – wie kam er zustande? [315 ff.]; Zahl von 131,6 Prozent bei den KL wird nicht erklärt [333]; Entscheidungsbildung in OPräs.-Krise und „Führerentscheid“ werden nicht klar herausgearbeitet [358 ff.]; etwas unentschiedene Bemerkungen, inwieweit GGer Instrument des GL waren oder nicht [371 u. 373].

Dieses Exzerpt lag einer Rezension des Buches von Rohrer zugrunde, die ich in Band 23 der „Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 2007 publizierte:

Der Begriff „Macht“, so formulierte Max Weber vor fast einhundert Jahren, ist soziologisch amorph. Mit ihm sei lediglich die Chance bezeichnet, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“. Aufgrund dieser aus seiner Sicht unbefriedigenden Definition vermied es Weber, dem Machtbegriff einen zentralen Stellenwert einzuräumen. Die meisten Soziologen, Politologen oder Historiker sind ihm darin allerdings nicht gefolgt. Es gibt wohl kaum einen Begriff, der in den Geisteswissenschaften so inflationär und ohne genaue Definition verwendet wird. Dies gilt auch und gerade für die NS-Forschung, die oft wortreich Hitlers Macht oder aber Himmlers, Goebbels’ und Bormanns Machtstreben beschwören. Auch die Gauleiter der NSDAP sind stets beliebte Kandidaten, wenn es darum geht, Protagonisten des NS-Staates Machtgewinne oder -verluste zu attestieren. So trägt die maßgebliche, von Peter Hüttenberger 1968 vorgelegte Darstellung zu diesen Parteifunktionären den Untertitel „Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP“.

Christian Rohrer zeigt in seiner Freiburger Doktorarbeit, wie wenig ergiebig eine derartig undifferenzierte Herangehensweise an das Phänomen „Macht“ im NS-Staat ist. Er geht von der zutreffenden Beobachtung aus, daß die Zuschreibung von Macht, wie sie etwa Hüttenberger vorgenommen hat, willkürlich war und daß der Begriff in der NS-Forschung mittlerweile zu einer Leerformel verkommen ist. Statt dessen schlägt Rohrer eine systemtheoretische Neuformulierung des Machtbegriffs vor und unterteilt diesen mit Niklas Luhmann in die drei Einflußformen Autorität sowie positive und negative Sanktion. Generell legt er Wert darauf, daß Macht keine Eigenschaft einer Person ist, sondern daß sie stets zugeschrieben wird. Es geht dem Autor nun jedoch nicht darum, den systemtheoretischen Ansatz anhand eines Fallbeispiels systematisch zu erproben. Vielmehr will er diesen lediglich „in freier Form“ (S. 33) für die Analyse von Einfluß- und Machtprozessen benutzen. Im Zentrum steht dabei Erich Koch, der seit dem 15. September 1928 als Gauleiter der NSDAP in Ostpreußen amtierte. Rohrer interessiert sich für dessen Machtfülle in der NSDAP und in der Provinz Ostpreußen, denn am 2. Juni 1933 wurde Kochs auch noch zum Oberpräsidenten ernannt, was sich naturgemäß auch auf seine innerparteiliche Machtstellung auswirkte. In einer solchen Kombination von staatlichen mit Parteiämtern sieht der Autor generell ein Spezifikum „nationalsozialistischer Macht“.

Der empirische Teil seiner Arbeit besteht aus zwölf Kapiteln, in denen für jedes Jahr zwischen 1928 und 1939 ein Fallbeispiel aus dem Untersuchungsbereich vorgestellt wird. Das Themenspektrum umfaßt die Ernennung Kochs zum Gauleiter, die Provinzial- und Kommunalwahlen von 1929, den Erdrutschsieg der NSDAP bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930, die Auflösung der Ortsgruppe Insterburg und den Strukturwandel der NSDAP nach der Machtübernahme. Die Auseinandersetzung mit der SA und die regionalen Ereignisse des 30. Juni 1934 werden ebenso berücksichtigt. Im Mittelpunkt der Analyse steht die „Oberpräsidentenkrise“ des Jahres 1935, in deren Verlauf Koch kurz vor einer Entfernung aus seinen staatlichen Ämtern stand. Weiterhin schildert der Autor die parteigerichtliche Aufarbeitung dieser Krise, den Aufbau der Erich-Koch-Stiftung, den Gauparteitag der NSDAP von 1938 und Kochs Rolle bei der Annexion des Memellandes im März 1939. Der Zweite Weltkrieg bleibt unberücksichtigt. En passant liefert Rohrer eine ausführliche Geschichte der NSDAP in Ostpreußen, die bisher ein Desiderat der Forschung war, und eine Analyse des Verwaltungspersonals dieser Provinz. Dabei zeigt er, wie fragil Kochs institutionelle Position in Staat und Partei im Untersuchungszeitraum war. Als wichtigste Antagonisten des Gauleiters fungierten die Landesbauernschaft Ostpreußen, die SA und die SS. Letztlich verhinderten es nur die Hausmacht, die Koch sich in seinem Gaustab aufgebaut hatte, sowie die gemeinsame Rückendeckung Hitlers, des Stellvertreters des Führers Rudolf Heß und Hermann Görings, daß der Gauleiter über seine Amtsführung und die von ihm entfachten Skandale stürzte.

Betritt Rohrer mit seiner empirischen Arbeit größtenteils Neuland, so gerät der systemtheoretische Ansatz im weiteren Verlauf seiner Analyse mehr und mehr in den Hintergrund. Die bedeutendste Errungenschaft seiner Herangehensweise ist es, den Faktor „Macht“ institutionell und zeitlich zu differenzieren. Er zeigt, daß sich Prozesse der Machtbildung in der Regel auf der Ebene der Organisationen beziehungsweise der Interaktion zwischen Personen abspielen und daß sie in Regierung und Verwaltung quasi systemimmanent immer wieder Gegenmacht produzieren. Zu kurz kommt allerdings die Frage, inwieweit die Ebene des Publikums in diese Konzeption eingebaut werden muß. So ist es doch naheliegend, daß Koch gerade durch die unter seine Ägide errungenen Wahlerfolge der NSDAP und durch seine breite Akzeptanz bei der ostpreußischen Bevölkerung gegenüber seinen Konkurrenten enorme Machtgewinne erzielte. Rohrer tendiert jedoch dazu, dieses komplexe Geflecht zu vernachlässigen und seine Frage nach Kochs Macht in erster Linie auf der Organisationsebene zu beantworten. Ein konsequenter systemtheoretischer Ansatz hätte zudem eine stärkere Berücksichtigung von „Kommunikation“ als Basis alles Sozialen erfordert. Demgegenüber hält der Autor am handlungstheoretischen Verständnis von Macht fest und fällt in die von ihm zu Recht beklagte Terminologie der älteren NS-Forschung zurück. Nichtsdestotrotz kann er zeigen, daß Macht nicht einfach auf ein beliebiges Bewirken von Wirkungen reduziert werden darf, sondern ein struktureller Mechanismus ist, den es sorgfältig zu konzeptualisieren gilt. Insofern kann man seine Studie auch als Plädoyer lesen, jenseits der ausgetretenen Pfade der NS-Forschung nach neuen übergreifenden Deutungsschemata zu suchen.

Heute, fast fünfzehn Jahre später, gibt mir diese Rezension willkommenen Anlass zur Selbstkritik. Zwar habe ich die Bedeutung des Themas „Macht“ seinerzeit erkannt und Rohrers Beschäftigung damit ausgiebig gewürdigt; es kann jedoch keine Rede davon sein, dass ich mir in meiner eigenen Arbeit in den Jahren danach hinreichend klargemacht hätte, was es überhaupt heißt, sich einerseits mit „nationalsozialistischer Macht“ zu befassen, dies andererseits auch noch aus sozialwissenschaftlicher-systemtheoretischer Perspektive zu tun. Es sind ja vor allen Dingen Luhmann (1988, 2000) und Popitz (1992), derer sich Rohrer produktiv bedient. Lese ich mir meine eigenen Texte durch, dann ist viel von „Volksgemeinschaft“, Konsens, Zustimmung, Ermöglichung auf der einen Seite, von Terror, Gewalt und Repression auf der anderen Seite die Rede, und zwar möglichst gleichgewichtig. Nie wird aber eine Verbindung zwischen diesen Phänomenen hergestellt, wozu mir das Konzept „nationalsozialistische Macht“ heute aber sehr geeignet zu sein scheint. Zu beantworten ist damit vor allen Dingen die Frage, worauf die weitgehenden Anpassungsleistungen, die die breite Bevölkerung erbracht hat, beruhten, wie die (machtbasierte) Erzeugung von Konformität im Alltag funktionierte. Aber man benötigt ein gesellschaftsgeschichtlich fundiertes Konzept von „Macht“, um erst einmal eine solche Frage an den Nationalsozialismus stellen zu können.

Referenzen

Luhmann, Niklas: Macht. 2., durchges. Aufl., Enke: Stuttgart 1988

ders.: Die Politik der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2000

Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht, 2., stark erw. Aufl., Mohr Siebeck: Tübingen 1992

Rohrer, Christian: Nationalsozialistische Macht in Ostpreußen, Martin Meidenbauer: München 2006

Bruchstücke der Kritik, sechste summula

Suche nach der Geschichte einer Erfahrung

Was eigentlich ist mit der guten alten Erfahrungsgeschichte passiert? In den 1970er und 1980er Jahren seinerzeit als „Oral History“ in den historiografischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland eingeführt (bahnbrechend Niethammer/von Plato 1983-1985), um die Beziehungen zwischen „großer“ Politik“ und der subjektiv erlebten, erinnerten und verarbeiteten Geschichte der „kleinen“ Leute zu beleuchten, scheint es um sie in den letzten Jahren ruhiger geworden zu sein. Nur in der NS-Forschung wird über „Erfahrung“ noch häufiger gesprochen und gearbeitet (Maubach 2009; Reinicke/Stern/Thieler/Zamzow 2014; Stargardt 2015), und es mehren sich die Anzeichen dafür, dass die emphatische Verwendung dieses Wortes stark zugenommen hat, nicht zuletzt als Gegenwendung gegen die vorwaltende Dominanz politikgeschichtlicher Ansätze. Einen Versuch, die gesamte Bandbreite der Erfahrungen „ganz normaler Deutscher“ nach 1933 zu rekonstruieren, hat es bisher jedoch nicht gegeben (zu den jüdischen Opfern des NS-Regimes Friedländer 1998-2006; jetzt auch Taubitz 2016). Die Bochumer Dissertation des Historikers Janosch Steuwer (2017), um die es im Folgenden geht, hätte dies durchaus leisten können. Zwar verwendet Steuwer das Wort „Erfahrung“ selten und spricht lieber von „individueller Herausforderung“ durch den Nationalsozialismus. Letztlich geht es ihm aber doch um das, was sich die Erfahrungsgeschichte einstmals auf ihr Banner geschrieben hatte: das Verhältnis zwischen politischen Ereignissen und individuellem Erleben in der NS-Zeit nachzuzeichnen.

Wer beobachtet was?

Steuwer, 1983 in Duisburg geboren, studierte von 2003-2008 Bachelor of Arts in Geschichte und Politikwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Bielefeld. Von 2004-2007 war er Studentische Hilfskraft am Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum, 2008 dort auch Wissenschaftliche Hilfskraft. Von 2009-2011 arbeitete Steuwer im Forschungsprojekt zur „Geschichte der Stiftung Erinnerung Verantwortung und Zukunft und ihrer Partnerorganisation“ am Projekt „Öffentliche Meinung und Zwangsarbeiterentschädigung“, von 2011-2014 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Der Nationalsozialismus als biografische und gesellschaftliche Herausforderung. Formen des individuellen Umgangs mit dem Nationalsozialismus nach 1933 und 1945“ und fertigte seine Promotion „Die individuelle Herausforderung des Nationalsozialismus“ an, die er 2015 abschloss. Von 2014-2016 vertrat Steuwer die wissenschaftliche Assistentenstelle am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Ruhr-Universität Bochum (Prof. Dr. Constantin Goschler), und seit September 2016 wirkt er als Oberassistent an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich (Prof. Dr. Svenja Goltermann) in der Schweiz. Goschler und Goltermann waren auch die Erst- und Zweigutachter von Steuwers Dissertation, die 2017 im Göttinger Wallstein-Verlag publiziert wurde. Seine Fragestellung lautet darin wie folgt: „Wie die Deutschen auf die Herausforderung des Nationalsozialismus reagierten, wie sich im Zuge dessen Vorstellungen davon veränderten, wer man selber war, in welcher Zeit man lebte und in welchem Verhältnis man zu dieser Zeit stand, ist das eine Thema dieses Buches. Gleichzeitig zeigt es, inwiefern und auf welche Weise die verschiedenen Wahrnehmungs- und Reaktionsweisen der Zeitgenossen wiederum das NS-Regime beziehungsweise dessen Möglichkeiten zur Politikgestaltung prägten. Indem die Regimeführung ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen durch die Einbindung breiter Gesellschaftsschichten durchzusetzen gedachte, war und blieb die Realisierung der NS-Politik in zentralen Bestandteilen von der massenhaften Veränderung individuellen Verhaltens abhängig. In diesem doppelten Sinn nimmt das Buch die individuelle Herausforderung des Nationalsozialismus in den Blick: die Herausforderung, die das NS-Regime für das Denken und Handeln der einzelnen Zeitgenossen darstellte, und die Herausforderung, die die massenhaften Reaktionen der einzelnen Zeitgenossen für die Politikgestaltung des Regimes bildeten“ (Steuwer 2017: 16).

Steuwers Erkenntnisinteresse ist also ein doppeltes: er will wissen, wie die Zeitgenossen auf die Übernahme der politischen Macht durch den Nationalsozialismus reagierten, und er will wissen, wie sich diese Verhaltensweisen wiederum auf die Gestaltungsmöglichkeiten des NS-Regimes auswirkten. Die zitierten Sätze basieren auf vier teils widersprüchlichen Präsuppositionen: 1. die Präsupposition von challenge und response, konzipiert als Kausalverhältnis und Differenz von vorher und nachher, wobei das NS-Regime (wer oder was immer das ist) agiert, die deutsche Bevölkerung (wer oder was immer damit gemeint ist) reagiert; 2. die Präsupposition eines Wandels individueller Selbstbilder nach 1933 aufgrund der politischen Ereignisse (und nicht etwa aufgrund von persönlich-privaten Erfahrungen); 3. die Präsupposition eines Machtkreislaufs, bei dem die NS-Politik die individuellen Verhaltensweisen zwar veränderte, gleichzeitig aber auch in der eigenen Reichweite von diesen Veränderungen abhing; schließlich 4. die Präsupposition, es sei dem NS-Regime um eine Einbindung (oder Integration) möglichst breiter Bevölkerungskreise gegangen. Die Präsuppositionen 1 und 3 beziehungsweise 2 und 4 stehen aber in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Challenge und response als Denkmodell funktioniert im Verein mit der These des Machtkreislaufs nur dann, wenn es zirkulär konzipiert wird, also die response der einen Seite wieder als challenge der anderen gedacht wird, und der Wandel individueller Selbstbilder findet auf einer anderen Referenzebene statt als die gesellschaftliche Integration.

Die Quellen

Um die die Reaktionen „der Deutschen“ auf die Herausforderung des Nationalsozialismus und deren Rückwirkungen auf die Gestaltungsmöglichkeiten des NS-Regimes zu rekonstruieren, benutzt Steuwer im Großen und Ganzen zwei Quellengattungen: zum einen Tagebücher, die archivalisch überliefert sind, zum anderen eine große Zahl zeitgenössischer Druckschriften, Zeitungsartikel sowie wissenschaftlicher Editionen. Zur ersten Quellengruppe zählen, so Steuwer, „rund 140 bisher weitgehend unveröffentlichte[r] Tagebücher aus dem Zeitraum 1930 bis 1939“ (ebd.: 27). Darunter befinden sich „eine ganze Reihe von Büchern, deren Verfasser Mitglieder der NSDAP waren oder sich ehren- beziehungsweise hauptamtlich für das NS-Regime betätigten […]. Genauso befinden sich unter den herangezogenen Tagebüchern Dokumente von Menschen, die sich in Distanz zum NS-Regime verorteten und dessen Politik schreibend immer wieder kritisierten […]. Ebenso sind jüdische Deutsche unter den untersuchten Tagebuchautoren, die nicht wegen ihrer politischen Ansichten, sondern ihrer vermeintlich rassischen Minderwertigkeit in einen Gegensatz zum NS-Regime gerieten“ (ebd.: 31). Dass Steuwer einen sehr breiten Begriff von „Tagebuch“ vertritt, erfährt man jedoch nicht aus der Einleitung, sondern erst im weiteren Verlauf der Lektüre seines Buches. Mindestens vier verschiedene Tagebuch-Typen sind hierbei zu unterscheiden: Erstens das seit dem 19. Jahrhundert klassische bürgerliche Medium individueller Selbstvergewisserung, zweitens Tagebücher aus dem Dienstalltag von NS-Funktionären, die als Dokumentation für die Nachwelt dienten (klassisch: Joseph Goebbels) (ebd.: 228-234), drittens Elterntagebücher und vorgedruckte Notizbücher oder Kalender, die der individuellen Dokumentation spezifischer Lebensabschnitte verpflichtet waren, und viertens vom NS-Regime inspirierte „Erlebnisbücher“.

Steuwers neben den Tagebüchern zweite Quellengruppe lässt sich im Großen und Ganzen dem Bereich der NS-Medienlenkung zuordnen. Dazu zählen die bekannten Lageberichte, mit denen man die vermeintliche Stimmung der Bevölkerung zu rekonstruieren trachtete, das regierungs- und parteiamtliche Schrifttum, in dem allgemeine Verhaltensnormen kodifiziert waren, und die Sammlungen von Reden und Proklamationen führender Nationalsozialisten. Interessanterweise hat Steuwer keine Quellen benutzt, die die Entscheidungsbildungsprozesse in den NS-Behörden thematisieren; ein für seine Frage nach den Reaktionsweisen des NS-Regimes problematisches Versäumnis. Wie das NS-Regime auf die individuellen (kollektiven) Verhaltensweisen reagierte und welche Gestaltungsnotwendigkeiten sich daraus ergaben, kann mittels der einschlägigen Lageberichte allein nicht analysiert werden, denn sie spiegeln ja nur die Wahrnehmungsebene der Berichterstatter wider. Um die Reaktionsweisen des NS-Regimes in den Blick zu bekommen, müssen zusätzlich aber auch Gesetzgebungsprozesse und Verwaltungsvorgänge untersucht und an die Wahrnehmungsebene rückgekoppelt werden. Aus den beiden Quellengruppen Steuwers ergibt sich insofern ein doppeltes Ungleichgewicht: Zum einen konnten Tagebücher als private Dokumente gar nicht vom NS-Regime wahrgenommen worden sein (ausgenommen solche, die bei Haussuchungen bei der politischen Opposition beschlagnahmt wurden). Zum anderen waren die Wahrnehmungen des NS-Regimes, wie sie sich in den Lageberichten widerspiegelten, nur die unabdingbare Vorstufe späterer Reaktionen und damit noch kein Beleg für politische Gestaltung. Im Grunde genommen bekommt Steuwer mittels der von ihm herangezogenen Quellen entweder höchst individuelle Aneignungen des Nationalsozialismus oder die Wahrnehmung kollektiver Verhaltensweisen durch die Berichterstatter in seinen Blick. Beides geht nur schwer zusammen.

Methodische Postulate

Es könnte natürlich sein, dass er eine besondere Methodik entwickelt, die es ihm dennoch erlaubt, seine beiden Ausgangsfragen – die Verhaltensweisen der Bevölkerung auf der einen Seite, die Reaktionen des NS-Regimes auf der anderen Seite – miteinander zu verbinden. Wie also nähert sich Steuwer den Quellen, wie will er sie lesen, wie reflektiert er auf ihre inhaltliche Aussagen und deren Reichweite? In der Einleitung beschränkt er sich auf die Gattung „Tagebuch“, die er mit dem französischen Literaturwissenschaftler Philippe Lejeune (2014) als autobiografische Textform begreift, die referentiell ist, d.h. eine Realität schildert, die zwar literarisiert und stilisiert ist, gleichwohl aber mittels philologischer Analyse überprüfbar ist (Steuwer 2017: 22, 26). Nach einer knappen Schilderung jener sozialen Ausbreitung, die das Tagebuchschreiben zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfuhr, und der Kritik der bisherigen Benutzung dieser Quellengattung in der NS-Forschung kommt Steuwer zum zentralen Punkt „Tagebücher lesen“. Sein entscheidendes Postulat lautet wie folgt: „Bei der Lektüre widme ich dem Prozess des Tagebuchschreibens besondere Aufmerksamkeit. Wie in einem Tagebuch geschrieben wird, welche Themen, Gegenstände und Fragen behandelt werden und wie sich dies im Zeitverlauf veränderte, hält entscheidende Einsichten zum individuellen Umgang mit den Herausforderungen des Nationalsozialismus bereit […]. Durch die Formenvielfalt, mit der in den 1930er Jahren Tagebücher geführt werden konnten, und das Fehlen allgemeiner Schreibkonventionen muss dafür für jedes Tagebuch dessen jeweiliger Gebrauchszusammenhang herausgearbeitet werden, also die Intentionen, mit denen der Schreibende das Tagebuch führte, und seine durch sie bestimmte Auswahl an aufgeworfenen Themen und Fragen. Erst vor diesem Hintergrund werden Veränderungen des Tagebuchschreibens erkenn- und deutbar“ (ebd.: 33). Steuwer also geht es um eine holistische Erfassung jedes Tagebuchs, die intensive Beschäftigung mit deren Verfassern über einen langen Zeitraum, eine Stilkritik und eine Berücksichtigung aller nur erdenklichen Themen und Kontexte, die die Schreibenden verhandelten.

Und die zweite Quellengattung, die Lageberichte? Sie werden nicht in der Einleitung unter die Lupe genommen, sondern im entsprechenden Teil des Buches, in dem sie eigentlich hätten zur Auswertung kommen sollen (ebd.: 359-378). Darin folgt Steuwer zunächst einmal der Kritik, die Peter Longerich (2006) in seiner Studie über die NS-Judenverfolgung und die Reaktionen der Bevölkerung an der bisherigen Verwendung dieser Quellen in der Forschung vorgebracht hat. Er betont zurecht, dass die Berichte integraler Bestandteil der Meinungsbildungsprozesse in einer gelenkten Öffentlichkeit gewesen seien und den Anspruch des NS-Regimes widerspiegelten, möglichst schnell auf kollektive Stimmungsveränderungen zu reagieren und die eigene Politik daran anzupassen (Steuwer 2017: 366, 377). Zugleich kritisiert er Longerich aber auch dafür, nicht die politischen Einstellungen der Deutschen in den Mittelpunkt gerückt zu haben, sondern die Funktion der Berichte für das NS-Regime. Für Steuwer ist das Folgende wichtiger: „Welche Meinung besaßen die Deutschen vom NS-Regime, wie reagierten sie auf dessen politische Entscheidungen, in welcher Weise wurde damit die Bevölkerung in die nationalsozialistische Politikgestaltung einbezogen und welcher gesellschaftliche Rückhalt ergab sich daraus für das Regime?“ (ebd.: 375). Dies sind vier Fragen, die sich nur auf die individuellen Verhaltensweisen beziehen, also auf das erste seiner beiden zentralen Erkenntnisinteressen. Die Herausforderung, die die Reaktionen der Zeitgenossen für die Politikgestaltung des NS-Regimes bilden, sucht man hier vergeblich! Und drei Seiten später kommt aus heiterem Himmel die Aussage, er interessiere sich in diesem Teil des Buches für den Einzelnen „und seine individuelle Beschäftigung mit der Regierungspolitik“, die sich aus den Tagebüchern weit besser dokumentieren lasse als aus den Lageberichten (ebd.: 378). Konsequenterweise legt Steuwer letztere einfach beiseite, wendet sich den Tagebüchern zu und will plötzlich nur noch das darin zum Ausdruck kommende individuelle „politische Bewerten“ analysieren. Verwundert reibt sich der Leser die Augen und fragt sich, was hier eigentlich genau passiert ist. Steuwer bricht an dieser Stelle unvermittelt mit dem eingangs skizzierten Erkenntnisinteresse, die Wechselwirkungen zwischen individuellen Verhaltensweisen und Gestaltungsmöglichkeiten des NS-Regimes zu untersuchen, und erklärt einen Großteil seiner Quellen (die Lageberichte) einfach für bedeutungslos! Über die gravierenden Probleme, die sich daraus ergeben, wird weiter unten zu handeln sein.

Und wie Steuwer seine Quellen wirklich liest …

Nachdem der Leser in der Einleitung mit einer großen Anzahl methodischer Vorbemerkungen zu den Tagebüchern überschüttet wurde, stellt sich die Frage, inwieweit diese im weiteren Verlauf der Studie umgesetzt werden. Der Verdacht, dass die eingangs propagierte holistische Lektüre der Tagebücher angesichts ihrer immensen Zahl nicht durchzuhalten sein würde, bestätigt sich über das gesamte Buch hinweg, das aus drei Teilen besteht. Im ersten Teil (ebd.: 43-178) geht es darum, „wie die Zeitgenossen mit dem weitreichenden Zugehörigkeitsanspruch des NS-Regimes umgingen, die alltäglichen sozialen Beziehungen der Deutschen grundlegend zu verändern“ (ebd.: 46). Der zweite Teil (ebd.: 179-351) behandelt den umfassenden Erziehungsanspruch des NS-Regimes und den Versuch, die Zeitgenossen „zur Veränderung ihrer Selbstvorstellungen und Lebensweisen anzuhalten“ (ebd.: 183). Der dritte Teil (ebd.: 353-548) interessiert sich für den „vom NS-Regime formulierten Anspruch auf eine Neubestimmung der Beziehungen zwischen Regierung und Bevölkerung und den veränderten Formen politischen Handelns und Bewertens […], die nach 1933 als Bestandteil des neuen politischen Systems des Nationalsozialismus entstanden“ (ebd.: 357). Diese gedrechselten Sätze deuten bereits an, dass Steuwer kein Freund klarer Formulierungen ist, sondern Substantivierungen in Aufzählungsform bevorzugt.

Ähnlich unbefriedigend ist die Art und Weise, wie er die Tagebücher, die in allen drei Teilen des Buches im Mittelpunkt stehen, präsentiert. Das Grundprinzip besteht in einer thematischen Gliederung nach Sachgesichtspunkten; chronologische Aspekte treten demgegenüber in den Hintergrund. Etwa ein Viertel der Tagebücher wird auf den immerhin fast 600 Seiten nur wenige Male erwähnt, etwa die Hälfte bis zu zehn Mal, und ein letztes Viertel findet das gesamte Buch hindurch Erwähnung. Nur bei den öfter genutzten Tagebüchern versorgt Steuwer den Leser mit ausführlichen biografischen Informationen, wie die Beispiele des 1887 in Hamburg geborenen Hans Maschmann (ebd.: 82 f.) oder der 1914 im Ruhrgebiet zur Welt gekommenen Inge Thiele (ebd.: 147 f.) zeigen. Auch in solchen Fällen werden im Verlauf der Untersuchung immer wieder wichtige biografische Informationen nachgeschoben; bei den weniger oft genannten Personen muss sich der Leser mit den Lebensdaten, vielleicht auch noch mit Familienverhältnissen und knappen Charakterisierungen der politischen Position begnügen. Dass es keine standardisierten Personenkommentare gibt, ist im Zusammenhang mit dem Postulat einer holistischen Lektüre ein Nachteil. Die Tagebücher können ihre analytische Kraft nur dann entfalten, wenn die darin zum Ausdruck kommende Persönlichkeitsentwicklung möglichst detailliert präsentiert wird, damit auch deren Dynamik nachzuvollziehen ist. Dass hierbei auch zentrale Differenzkategorien wie Klasse, Geschlecht und Alter zu berücksichtigen wären, ist Steuwer klar (ebd.: 29). Aber gerade die Altersdifferenz wird von ihm nicht in der Bedeutung gewürdigt (ebd.: 202 ff.), die ihr für die Reaktionsweisen der Tagebuchschreibenden zukam. Im Grunde genommen homogenisiert Steuwer die Tagebücher in einer unzulässigen Art und Weise.

Ein weiteres Problem, das sich insbesondere im Kapitel „Das Private und die Frage nach den Grenzen des politischen Systems des Nationalsozialismus“ (ebd.: 493-548) zeigt, besteht in der ausschließlich auf das Politische fixierten Lektüre der Tagebücher. Diese ist ja bereits durch die Fragestellung vorgegeben, weil Steuwer die individuelle Herausforderung herausarbeiten will, die sich nach 1933 durch den Nationalsozialismus ergab, und dieser seit der Weimarer Zeit als Partei auftrat, die sich jetzt anschickte, das politische System zu beherrschen. Dadurch wird die Persönlichkeitsentwicklung der Tagebuchschreibenden von vornherein auf politische Aspekte festgelegt. Um diese Schieflage zu vermeiden, hätte Steuwer anhand jedes einzelnen Tagebuchs exakt quantifizieren müssen, in welchen Anteilen politische und private Themen verhandelt wurden. Eine weitere Möglichkeit wäre gewesen, das Private, wie es in den Tagebüchern zum Ausdruck kommt, ausführlicher zu vermessen. Auch dies unterbleibt, denn das eben erwähnte Kapitel ist größtenteils aus der Sekundärliteratur gearbeitet. Die darin entwickelte These, es habe auch „ohne das gewaltsame Eindringen politischer Akteure in die eigene Wohnung […] in den 1930er Jahren keine unpolitische, vom politischen System nicht tangierte räumliche Privatheit mehr“ gegeben (ebd.: 516), vermag allerdings nicht zu überzeugen, weil Steuwer auch hier die wenigen Tagebücher, die seinen Ausführungen zugrundeliegen, immer nur im Hinblick auf die Reflexion politischer Ereignisse auswertet. Die Frage nach dem Privaten in der NS-Zeit ist gar nicht zu beantworten, wenn man Familienleben, Freundschaften, religiösen Überzeugungen, Nachbarschaft, Freizeitgestaltung und alltäglichen Verrichtungen nicht berücksichtigt.

Welche Herausforderung(en)?

In allen drei Teilen des Buches betont Steuwer die Herausforderung, die der Nationalsozialismus für jeden Einzelnen seiner Tagebuchschreibenden darstellte. Im Zentrum steht die Annahme, das NS-Regime habe von jedem Einzelnen eine explizite und eindeutige Zuordnung verlangt, soll heißen: eine Bejahung des Regimes aus vollem Herzen und zu jeder Zeit (ebd.: 65, 96, 160 u. ö.). Was aber heißt „Zuordnung“? Wie könnte sich diese in Tagebüchern manifestieren? Und wie könnte das NS-Regime die Erfüllung seiner Ansprüche nachgeprüft haben? Mit diesen Fragen sieht sich der Leser konfrontiert, und Steuwer lässt ihn in weiten Teilen alleine. Methodisch hätte es sich angeboten, die je individuellen Herausforderungen aus den Tagebüchern zu entnehmen, sie vielleicht zu typologisieren und die individuellen Umgangsweisen nachzuzeichnen. Im ersten Teil des Buches verbleibt Steuwer durchweg an der Oberfläche. Immer wieder konstatiert er, dass der Nationalsozialismus dazu zwang, Stellung zu nehmen (ebd.: 57, 63, 68 u. ö.), und redet mit seinen Gewährsleuten von einer „Forderung nach Zuordnung zum neuen Regime“ (ebd.: 65). Selten genug wird deutlich, um welche Herausforderungen es eigentlich ging. Einmal erwähnt ein Tagebuchschreiber die Erwartung an alle Gemeindebeamten, bei amtlichen Handlungen in Uniform zu erscheinen (ebd.: 108); andere heben auf das Hissen der Hakenkreuz-Fahne im Frühjahr 1933, den „Hitler-Gruß“, die Aufforderung, der NSDAP oder ihren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden beizutreten, oder den Druck bei den Sammel- und Spendenaktionen des NS-Regimes ab (ebd.: 137 ff.). Der Forschung sind viele andere Verhaltensanforderungen bekannt, mit denen der Nationalsozialismus in das Alltagsleben der Individuen eingriff. Es stellt sich die Frage, ob sie in den Tagebüchen nicht im Detail thematisiert wurden oder ob Steuwer sie dem Leser nur nicht in der Breite mitteilt. Zwar schiebt er einige dieser Herausforderungen, die eigentlich in den ersten Teil gehört hätten, im dritten Teil nach, etwa die Teilnahmebereitschaft an NS-Massenveranstaltungen, Radio-Gemeinschaftempfängen und Reichstagswahlen, wie sie anlässlich der „Volksabstimmungen“ 1933, 1934 und 1938 inszeniert wurden. Dies ändert jedoch nichts am Befund, dass diese Herausforderungen niemals systematisiert werden.

Dieses Problem resultiert vor allen Dingen daraus, dass Steuwer an keiner Stelle des Buches die Perspektive des NS-Regimes berücksichtigt und dessen Erwartungshorizonte, die sich zudem im Zeitverlauf dynamisch wandelten, nicht konsequent in den Blick nimmt. Am deutlichsten zeigt sich dies in seiner völligen Vernachlässigung des Faktors „Organisation“. Eine der wichtigsten Herausforderungen, die sich nach 1933 etablierten, war bekanntlich der vielfältige Druck, einer jener Organisationen beizutreten, die im weitesten Sinne zur NSDAP zählten (Nolzen 2004). Das weiß natürlich auch Steuwer, ohne diesen Sachverhalt jedoch einmal auf den Punkt zu bringen. Wie nebenbei erwähnt er, dass sich ein Tagebuchschreiber „im Sommer 1933 mit dem Beitritt in die SA auch organisatorisch zugeordnet hatte“ (Steuwer: 2017: 72), ein zweiter sich im Frühjahr 1933 bemühte, in die NSDAP und in die SA aufgenommen zu werden (ebd.: 87), ein dritter sich nach einem dreijährigen Engagement in der Hitler-Jugend (HJ) „im Rückblick ernüchtert“ und „erschöpft“ fühlte (ebd.: 129), ein vierter im Frühjahr 1933 aus der Zentrumspartei austrat und in die NSDAP eintrat (ebd.: 156) und ein fünfter Mitglied der HJ war (ebd.: 251). Schließlich erfährt man von einem weiteren Protagonisten, der sich immer penibel genau notierte, wer aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis in die Partei eingetreten war (ebd.: 145 f., 157, 169), dreihundert Seiten später, dass er sich in der NS-Handels- und Gewerbeorganisation, der radikal antisemitischen Mittelstandsvereinigung der NSDAP engagierte (ebd.: 425). Bei allen diesen Beispielen ist aus den Fußnoten zu entnehmen, dass die Tagebuchschreibenden das Problem der Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft in diesen Organisationen durchaus intensiv reflektierten. Obwohl Steuwer dieser Sachverhalt, wie seine quellenkritischen Bemerkungen zeigen (ebd.: 31), vor Augen steht, interessiert er sich einfach nicht für die Frage, inwieweit die Zugehörigkeit zu einer NS-Organisation das Tagebuchschreiben beeinflusste.

Selbstpositionierung und politische Selbstgestaltung

Bisher ist vom Kern von Steuwers Analysen, also den Wahrnehmungsweisen und Bewertungen der Tagebuchschreibenden, noch wenig die Rede gewesen. Es ist dies das eigentliche Thema, das Steuwer in immer neue Verästelungen hinein verfolgt. In den ersten beiden Teilen seines Buches stehen zwei größere thematische Bereiche im Vordergrund: Erstens die Suche nach einer eigenen Position, zum einen durch intensive Selbstreflexion, zum anderen durch die Beobachtung des sozialen Nahumfeldes, und zweitens die „politische Selbstgestaltung“, wie Steuwer es nennt, im Rahmen des NS-Erziehungsprojektes. Der erste Teil beginnt mit dem Unterkapitel „Die soziale Dynamik der ,Machtergreifung‘“ (ebd.: 48-81), in dem Steuwer die NS-Machtübernahme und deren Verklärung zur „nationalen Erhebung“ schildert. Dieses „nationale Ereignis“ habe die gesamte Nation betroffen und jedes ihrer Mitglieder dazu aufgefordert, Stellung zu beziehen und sich dem NS-Regime zuzuordnen (ebd.: 63). Steuwer betont die notwendige Eindeutigkeit der geforderten Zuordnung. Die individuellen Positionierungen, wie sie sich in den Tagebüchern finden lassen, hatten mit dieser Eindeutigkeit gravierende Probleme. Steuwer bringt unzählige Beispiele dafür: Der Göttinger Pfarrerssohn Karl Möhring meditierte im Sommer 1933 darüber, dass sich seine momentane Sicht des NS-Regimes nicht im Gegensatz zu früheren Ausführungen befinde (ebd.: 71), ein Zentrumswähler rechtfertigte sich vor sich selbst, dass er immer noch zu „metaphysisch“ veranlagt sei (ebd.: 73), ein anderer, die NS-Judenverfolgung kritisierender, abgebrochener Jurastudent zeigte sich bereit, sich mit den neuen Umständen zu arrangieren (ebd.: 80 f.). „Sich zu dem neuen Regime zu positionieren war eine politische wie eine biografische Entscheidung“, resümiert Steuwer (ebd.: 81). Was daran „politisch“ war, in einem privaten Tagebuch eine persönliche Einstellung zum NS-Regime zu entwickeln, verrät er uns nicht.

Seine weiteren Ausführungen kreisen um die Frage, wie die Tagebuchschreibenden es anstellten, ihre Zuordnung zum NS-Regime mit kritischen Positionen zu verbinden. Diese „Gleichzeitigkeit von Zuordnung und Kritik“ (ebd.: 96, 100, 127) zeigte sich in den Tagebüchern vor allen Dingen bei den politischen Ereignissen der Jahre 1933/34 und der Eskalation des Terrors gegen Juden, Andersdenkende und „objektive Gegner“ des NS-Regimes. Steuwer betont, dass die Gewalt „von vielen Zeitgenossen nicht als zentrales Merkmal nationalsozialistischer Herrschaft betrachtet [wurde], sondern als etwas, das mit ihrem weiteren Aufbau überwunden würde“ (ebd.: 110). Die antisemitische Gewalt, die in den Tagebüchern ausführlich registriert wurde, wurde den radikalen Nationalsozialisten, nicht dem NS-Regime angelastet (ebd.: 169 f.). Für die eigene Zuordnung scheinen Beziehungen zu Juden eher nachrangig gewesen zu sein. Sie erfolgte also nicht über den Antisemitismus als ideologischem Kern des NS-Regimes. Wichtiger für die Zuordnung waren die Person des „Führers“ Adolf Hitler und der abstrakte Begriff „Nation“ (ebd.: 108, 115, 121, 128). Für viele dieser Selbstpositionierungen sei kennzeichnend gewesen, meint Steuwer, dass sie unter „sozialer Beobachtung“ erfolgten, wie ein Unterkapitel heißt. Wer erwartet, dass darin ausgelotet würde, wie sich der Anpassungsdruck der NS-Instanzen auf das Individuum auswirkte und wie dies in den Tagebüchern reflektiert wurde, sieht sich enttäuscht. Stattdessen analysiert Steuwer darin individuelle Positionierungen in der Öffentlichkeit, etwa anlässlich der Veranstaltungen des NS-Regimes. Es geht ihm insofern nicht um „Positionsbestimmung unter sozialer Beobachtung“, sondern um die Performanz des Bekennens zum NS-Regime. Hier gelingt Steuwer ein wichtiger Befund in Abgrenzung zu Mary Fulbrook (2011), die ein starkes Auseinanderklaffen zwischen persönlichen Ansichten und öffentlichem Verhalten in der NS-Zeit behauptet hat. Dagegen betont Steuwer, „dass sich die Zeitgenossen trotz der grundsätzlichen Spannung zwischen persönlicher und öffentlicher Positionsbestimmung bemühten, diese beiden Arten der Zuordnung zum Regime für sich in einen Zusammenhang zu bringen“ (Steuwer 2017: 147, ähnlich 153 f.).

Im zweiten Teil von Steuwers Buch geht es schließlich um den individuellen Umgang mit dem NS-Erziehungsprojekt. Darunter versteht er den Anspruch des NS-Regimes an die Zeitgenossen, ihre Lebensweisen und Selbstvorstellungen zu ändern, und dessen erzieherische Aktivitäten. Sein Schwerpunkt liegt auf den je unterschiedlichen Aneignungsweisen des NS-Erziehungsanspruchs, wie er sich in den Tagebüchern widerspiegelt. Er beginnt mit einem Kapitel zu den Akteuren des NS-Regimes und deren Zielen, das unbefriedigend ist, weil er darin nur das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und einige Dienststellen der NSDAP behandelt (ebd.: 185-202). Im darauffolgenden Kapitel über die individuellen Aneignungsweisen der NS-Erziehung, die er seinen Tagebüchern entnimmt, tauchen dann wieder ganz andere Erziehungsinstitutionen wie Wehrmacht (ebd.: 208) oder Bund Deutscher Mädel (BDM) (ebd.: 209) auf. Warum Steuwer nicht einfach die Erziehungsinstitutionen, wie sie sich in den Tagebüchern finden, systematisiert und deren Ansprüche mit den individuellen Erfahrungen der Tagebuchschreibenden abgleicht, bleibt sein Geheimnis. Dafür führt er hier den Begriff „politische Selbstgestaltung“ (ebd.: 206, 208) ein, der im weiteren Verlauf der Analyse eine wichtige Rolle spielt und mit dem Steuwer auf einen für alle Erziehungsprozesse zentralen Aspekt hinweist: die notwendige Mitwirkung der zu Erziehenden an der Erziehung selbst. Freilich bleibt dieser Begriff unerklärt; sein Potenzial für die Analyse der NS-Erziehung wird nicht ausgeschöpft.

Im Mittelpunkt von Steuwers Ausführungen zur „politischen Selbstgestaltung“ (ebd.: 242) steht jedoch die NS-Lagererziehung, also die Maßnahmen zur intentionalen Änderung von Personen, wie sie regelmäßig abgehaltenen lagerähnlichen „Schulungsveranstaltungen“ stattfanden (dazu jetzt resümierend Patel 2018). Angesichts der Organisationsvergessenheit Steuwers kann es nicht weiter verwundern, dass er die institutionelle Seite dieser Lagererziehung nicht zum Gegenstand der Analyse macht; teilweise erfährt man nicht einmal, in welchem Lager welcher Organisation die Tagebuchschreibenden waren. Anhand der Lagererziehung weist er die aktive Beteiligung vieler Zeitgenossen an den NS-Erziehungsbemühungen nach, die er auf Gemeinschaftserlebnisse, Verbundenheit mit der eigenen Kleingruppe und konkrete persönliche Interessen zurückführt. Quellenkritisch bedenklich ist jedoch die bereits erwähnte Ausweitung des Begriffs „Tagebuch“. Neben den klassischen Medien der bürgerlichen Selbstvergewisserung, denen seine einleitenden Bemerkungen galten, zieht Steuwer jetzt auch die im Rahmen von Organisationszugehörigkeiten entstandenen „Erlebnisbücher“ heran, deren primär propagandistischer Charakter ihm natürlich vor Augen steht (Steuwer 2017: 234-241). Dies hindert ihn aber nicht daran, solche Tagebücher gerade für seine Analyse der NS-Lagererziehung ausführlich zu nutzen. Seine Befunde sind insofern durchaus mit einem Fragezeichen zu versehen.

Die Wege individueller „politischen Selbstgestaltung“ im Rahmen des NS-Erziehungsprojekts der Individuen verfolgt Steuwer auch in zwei Unterkapiteln über individuelle Körpererfahrungen (ebd.: 279-307) und die große Bedeutung eines Faktors wie „Herkunft“, die sich aus der notwendigen Erstellung von „Ahnenpässen“ zum Beweis der eigenen „arischen Abstammung“ ergab (ebd.: 307-358). Steuwer lässt keinen Zweifel daran, dass viele der Zeitgenossen die damit einhergehenden „rassenhygienischen“ Topoi unreflektiert übernahmen. Inwieweit sie jedoch die NS-Judenverfolgung als Herausforderung empfanden, Empathie mit den Opfern entwickelten und mit dem NS-Regime in Konflikt gerieten, erörtert er hier nicht. Unklar bleibt auch, wie sich diese fast schon manische Befassung mit genealogischen Fragen mit dem Befund des ersten Teiles verträgt, dass die NS-Judenpolitik und die Beziehung von Nichtjuden zu Juden für die individuelle Zuordnung zum NS-Regime und für den Prozess der Selbstpositionierung keine Rolle gespielt habe (ebd.: 164-171). Im gesamten zweiten Teil stört wieder die subjektivistische Schlagseite. Welche Praktiken das NS-Erziehungsprojekt umfasste, welche Organisationen sich daran beteiligten und welche Evaluationskriterien und Sanktionen sie entwickelten, um ihren Erziehungsmaßnahmen den nötigen Nachdruck zu verleihen, wird kaum thematisiert.

Die Politik und ihr Publikum

Neben Selbstpositionierung und politischer Selbstgestaltung als den beiden Mechanismen der je individuellen Verarbeitung des Nationalsozialismus durch die Zeitgenossen versucht Steuwer im dritten Teil des Buches, das Verhältnis zwischen den politischen Instanzen und der Bevölkerung auszuloten. Er folge einem „engen Politikbegriff, der vor allem das Zusammenspiel der Akteure, Prozesse und Strukturen in den Mittelpunkt rückt, die an der Festlegung allgemeinverbindlicher politischer Entscheidungen beteiligt sind“ (ebd.: 357). Wenig später liest man: „Entsprechend stehen im Folgenden das ,politische System des Nationalsozialismus‘ und die Frage, wie die Bevölkerung auch in der Diktatur hierin eingebunden war, im Mittelpunkt“. Angesichts dieser Ausführungen wäre zu erwarten gewesen, dass Steuwer jetzt endlich seine zweite Ausgangsfrage nach jenen Herausforderungen aufnimmt, die sich aus den Reaktionen der Zeitgenossen für die politischen Gestaltungsmöglichkeiten des NS-Regimes ergaben. Dazu hätte er die Perspektive des NS-Regimes in den Mittelpunkt stellen und Wechselwirkungen zwischen Regierungspolitik und kollektivem Verhalten ausloten müssen. Nach den quellenkritischen Ausführungen zu den Lageberichten heißt es dann aber vollkommen unvermittelt, im weiteren Verlauf gehe es um die „Entstehung neuer, den veränderten Bedingungen der NS-Diktatur angemessener Formen politischen Handelns und Bewertens sowie deren Bedeutung für das politische System und für das Alltagsleben der Deutschen“ (ebd.: 378). Was sich hinter diesem kryptischen Satz verbirgt, erschließt sich dem Leser nicht. Von den politischen Gestaltungsmöglichkeiten des NS-Regimes ist jedenfalls keine Rede mehr.

Im weiteren Verlauf des dritten Teils steht vielmehr ein Aspekt im Vordergrund, den man als individuelle politische Meinungsbildung bezeichnen kann, die anhand jener Beobachtungen der Regierungspolitik erfolgte, wie sie den Tagebüchern zu entnehmen sind. Steuwer bringt dies an keiner Stelle auf den Punkt, sondern führt eine Vielzahl von Begriffen und Konzepten ein, die unerklärt bleiben. Dazu zählen „öffentliche Meinung“, „Meinungsbildung“, „politisches Handeln und Bewerten“, „Teilhabebemühen“, „politische Integration“, „politischer Zuspruch“, „private Räume“, „Öffentlichkeit“, „Privatheit“ und so weiter. Seine Sprache mutiert immer mehr zu einem pseudo-wissenschaftlichen Kauderwelsch, dessen Verstehbarkeit gegen Null geht. Man nehme den symptomatischen Satz auf Seite 386: „Und weil das NS-Regime die formalisierten Verbindungen zwischen Regierung und Volk der Weimarer Demokratie zerstört hatte, kam dieser politischen Kultur des Nationalsozialismus – dem spezifischen Geflecht aus der öffentlichen Darstellung nationalsozialistischer Politik und den hierauf bezogenen Formen individuellen politischen Verhaltens – eine elementare Bedeutung für die Integration der Gesellschaft in das politische System zu“. Hier bleibt fast alles nebulös, was ausgesagt wird. Worin bestanden die „formalisierten Verbindungen zwischen Regierung und Volk“ in der Weimarer Republik, die das NS-Regime zerstört hatte? Waren es die regelmäßig abgehaltenen allgemeinen, freien und geheimen Wahlen, war es die Repräsentativverfassung, symbolisiert in einem von mehreren politischen Parteien getragenen Parlamentarismus im Reich und in den Ländern? Was bedeutet „Integration der Gesellschaft in das politische System“ (ein besonders schönes Beispiel für den hier vorwaltenden Jargon)? Worin bestand die politische Kultur des Nationalsozialismus genau? Offenbar aus einem spezifischen Geflecht zwischen der Außendarstellung aus der NS-Politik und den darauf bezogenen individuellen Verhaltensformen. Aber was war daran eigentlich spezifisch? Das politische System moderner Nationalstaaten ist gerade durch eine zirkuläre Abhängigkeit zwischen Politik und Publikum gekennzeichnet (Luhmann 2000: 274-318). Bei Steuwer fällt diese Zirkularität aus, weil er lediglich Publikumswahrnehmungen in seinen Blick nimmt und sich für die Entscheidungsprozesse des NS-Regimes nicht interessiert.

Dass die Medienrezeption eine zentrale Rolle für das politische Verhalten der Zeitgenossen spielte, wie Steuwer mit einigem Aplomb konstatiert (Steuwer 2017: 403, 432 u. ö.), überrascht nicht. Den Massenmedien entnahmen sie Informationen über die Verhaltensanforderungen des NS-Regimes, und erst in der Auseinandersetzung mit deren Konzepten konnte sich überhaupt ein Abgleich mit den eigenen individuellen Standpunkten entwickeln. Dass aus den Tagebüchern keine „öffentliche Meinung“ hervorgehen konnte, weil die Öffentlichkeit fragmentiert war und sich Individualmeinungen nicht aggregieren ließen (ebd.: 420), ist Steuwer bewusst. Worum geht es in diesem dritten Teil also? Im Grunde genommen reiht Steuwer individuelle Beobachtungen und Bewertungen der NS-Regierungspolitik aneinander, die zwischen ostentativer Unterstützung und eher skeptischer Zurückhaltung oszillierten. An vielen Stellen räsoniert er über den Grad der Einbindung der Tagebuchschreibenden ins politische System des Nationalsozialismus (ebd.: 454 f., 457, 459 u. ö.). Seine These, die Integration der Zeitgenossen sei „grundsätzlich weniger aus der Verbreitung politischer Ansichten durch Radio und Zeitung“ erwachsen, sondern „eben aus der Interaktion zwischen gelenkten Massenmedien und Medienkonsumenten selbst“ (ebd.: 457), ist jedoch absurd. Ein wesentliches Kennzeichen des Nationalsozialismus war ja, immer wieder aufs Neue Wohlverhalten zu erzwingen, und zwar nicht nur im stillen Kämmerlein, in dem ein großer Teil des Medienkonsums (das Kino ausgenommen) stattfand, sondern gerade auch in Taten. Es hätte eine gute Möglichkeit gegeben, diese erzwungene Performanz besser in den Blick zu bekommen: die „Reichstagswahlen“ des Jahres 1933, 1934 und 1938. Den Tagebüchern, die Steuwer in diesem Zusammenhang zitiert (ebd.: 459, 461 u. ö.), ist zwar allerhand Allgemeines über die politische Situation zu entnehmen; wie die Tagebuchschreibenden selbst abgestimmt haben, verraten sie uns nicht. Politische Integration wird bei Steuwer mit dem Wahrnehmen des Politischen und dem Schreiben darüber gleichgesetzt: Pointierter gesagt: Tagebuchschreibende waren schon dadurch, dass sie über Politik schrieben, ins NS-Regime integriert!

Halbierter Nationalsozialismus (oder der nicht vorkommende Krieg)

Wenn es einen Common Sense in der neueren NS-Forschung gibt, dann besteht dieser in der weitgehenden Anerkennung der Notwendigkeit, die NS-Zeit in ihrer gesamten zeitlichen Erstreckung behandeln zu müssen. Steuwer kehrt diese Perspektive um und widmet sich der Vorkriegszeit, nicht jedoch, ohne einen Ausblick auf die Zeit nach 1939/40 zu wagen. Selbiges geschieht im Kapitel „Schluss“ (ebd.: 549-568), wo der Leser eigentlich eine Zusammenfassung der Ergebnisse erwartet hätte. Auf diesen knapp 20 Seiten finden sich noch einmal 91 Fußnoten, die allermeisten mit Quellennachweisen, viele davon mit Tagebucheinträgen aus dem Herbst und Winter 1939. Einen guten Teil der Analyse widmet Steuwer dabei dem Sachverhalt, dass viele der Tagebuchschreibenden eine Parallele zwischen dem Beginn des Ersten und des Zweiten Weltkrieges zogen (ebd.: 551 f.). Er betont die Skepsis, die viele beschlich, und die Differenzen zum „Augusterlebnis“ 1914. Allerdings hinkt der Vergleich zwischen dem August 1914 und dem September 1939, weil der Erste Weltkrieg ein traditioneller Waffengang mit Kriegserklärung war und den Zeitgenossen im Herbst 1939 noch gar nicht deutlich war, dass sich der „Polenfeldzug“ zu einem Weltkrieg auswachsen würde. Dass der August 1914 „einen herausragenden Moment in der Transformation und Demokratisierung [sic!] der politischen Öffentlichkeit in Deutschland“ markierte (ebd.: 564), dürfte eine Bewertung sein, die nicht viele andere Historiker teilen.

Ansonsten ergeht sich Steuwer in nichtssagenden Gemeinplätzen: „Die Herausforderungen, die das NS-Regime am Beginn seiner Herrschaft formuliert hatte, verschwanden nicht. Aber viele der Denk- und Verhaltensweisen, mit denen die Deutschen in den 1930er Jahren auf die neuen Herausforderungen reagiert hatten, ließen sich unter den Bedingungen des Krieges nicht mehr aufrechterhalten, mussten adaptiert werden oder gewannen bislang unbekannte Bedeutungen hinzu. Zudem formulierte der Krieg selbst neue Herausforderungen an den Einzelnen, die neben die Ansprüche an grundsätzliche Zuordnung, die Veränderung individueller Lebensweisen und Selbstsichten und die politische Unterstützung des Regimes traten, sich mit diesen verknüpften oder sie in den Hintergrund drängten. In der Begegnung mit ,Feinden‘ und ,Gegnern‘ in den besetzten Gebieten, aber auch mit den Millionen von dort nach Deutschland verschleppten Kriegsgefangenen und Zivilisten stellte sich die Frage nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit oder Ausgrenzung in einer anderen Weise, als zu jüdischen oder politisch diskreditierten Nachbarn in den 1930er Jahren“ (ebd.: 567). Offenbar war die individuelle Zuordnung zum NS-Regime vor allen Dingen in der Kriegszeit äußerst dynamisch. Diese Dynamik hat Steuwer im ersten und zweiten Teil seines Buches zwar angedeutet, als er sich mit einigen Aspekten des Antisemitismus beschäftigte, wie er von den Zeitgenossen in der Vorkriegszeit wahrgenommen wurde. Sie hätte eindringlicher herausgearbeitet werden können, wenn Steuwer die Kriegszeit gleichgewichtig in seine Analyse einbezogen hätte.

Und Gesellschaft?

Über das gesamte Buch hinweg beansprucht Steuwer, manchmal explizit, manchmal subkutan, einen wichtigen Beitrag zu einer Gesellschaftsgeschichte des NS-Staates leisten zu wollen. Er versucht, die Tagebücher mittels ausführlicher Analyse der Sekundärliteratur zu kontextualisieren und sie an die allgemeine historische Entwicklung des NS-Regimes zurückzubinden. 26 Seiten Literaturverzeichnis mit mehr als 500 Titeln zeugen von diesem Fleiß. Natürlich geht es dabei immer um politische Ereignisse und um das System der Politik. Dies aber löst das Problem, von den Tagebüchern als Quellen spezifischer Individuen auf die Referenzebene „Gesellschaft“ zu gelangen, nur unzureichend. Deshalb erklärt Steuwer sein Tagebuchsample einfach als repräsentativ für „Gesellschaft“. Die Argumentationsstruktur ist äußerst interessant: „In der Tat lassen sich Schilderungen aus einzelnen Tagebüchern nicht aussagekräftig auf die Gesellschaft hochrechnen. Sie stellen Äußerungen konkreter Personen dar, die nicht in den sozialen Merkmalen der Biografie des Verfassers aufgehen. Dennoch lassen sich auch mit Tagebüchern grundsätzliche und allgemeingültige Erkenntnisse gewinnen. Dafür ist jedoch ein methodisch reflektierter Umgang mit ihnen notwendig, der die Spezifika dieser Textsorte ernstnimmt“ (ebd.: 22). Sieben Seiten weiter beteuert er, „Autoren sehr unterschiedlicher sozialer Herkunft berücksichtigt“ zu haben (ebd.: 29). „Zwar stellen Tagebücher von Rechtsanwälten, Ärzten, Studenten, Lehrern und anderen Autoren mit bildungsbürgerlichem Hintergrund oder akademischen Berufen etwa zwei Fünftel des Quellensamples. Die restlichen drei Fünftel stammen jedoch von Autoren, die in abhängiger Beschäftigung arbeiteten, als Selbständige tätig oder ohne Arbeit waren“. Genauer gesagt, ist Gesellschaft bei Steuwer die Summe aller Individuen, deren sozio-kulturelle Merkmale irgendwie mit einer Gesamtheit korrelieren sollen, die jedoch nie genauer spezifiziert wird (jedenfalls nicht im sozialgeschichtlichen Sinn). Der Begriff „Gesellschaft“ wird bei Steuwer zumeist deckungsgleich mit „Bevölkerung“ benutzt.

In dieser Begriffsverwendung zeigt sich nicht nur eine Abkehr, wenn nicht gar Ignorierung der in den Geschichtswissenschaften seit den 1970er Jahren erarbeiteten gesellschaftsgeschichtlichen Konzepte (für den Nationalsozialismus ist paradigmatisch Wehler 2003). Auch soziologische Theorien von „Gesellschaft“ sind Steuwers Sache nicht. Dass sich das „Dritte Reich“ seit 1933 zur Gesellschaft entwickelte, die maßgeblich auf Organisationen und Organisationszugehörigkeit basierte, ficht ihn ebenso wenig an. Wichtige Bereiche wie die Ökonomie, Recht, Kunst und die Wissenschaft werden auch nicht analysiert, so dass der Anspruch auf Gesellschaftsgeschichte vermessen und verfehlt zugleich erscheint. Am deutlichsten zeigt sich dies im Kapitel zum NS-Erziehungsprojekt, das immer nur auf der Ebene individueller Wahrnehmung abgehandelt wird, nie auf der Ebene der Institutionen der Erziehung. So bleibt eine immense Lücke zwischen dem eingangs postuliertem Erkenntnisinteresse und der tatsächlichen Analyse. Mit seinem Anspruch, mittels einer Art subjektivierungsgeschichtlicher Erweiterung eine neue Perspektive auf die Gesellschaftsgeschichte des NS-Staates zu eröffnen, hat sich Steuwer eindeutig überhoben. Es geht in seiner Analyse immer nur um individuelle Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen politischer Aspekte, kaum einmal um Privates und schon gar nicht um „Gesellschaft“, von der Steuwer im Grunde genommen gar keine begriffliche Anschauung hat. Über weite Strecken des Buches findet sich genau jene Polarisierung zwischen „Herrschaft“ (meistens durch den nicht erläuterten Begriff „Regierung“) und „Gesellschaft“ (in der Regel bestehend aus Individuen mit Namensnennung), die die NS-Forschung mittlerweile überwunden zu haben glaubte.

Was ist dann eigentlich der zentrale Befund dieser Studie, an dem die weitere Forschung ansetzen kann? Originalton Steuwer: „Tagebücher der 1930er Jahre eröffnen aber deshalb beeindruckende Lektüren und neuartige Einsichten, weil ihre Eintragungen die unterstellte Trennung von privatem Leben und nationalsozialistischer Politik so oft kreuzen. Sie zeigen nicht einfach, wie sich Zeitgenossen gegen übermächtige Strukturen zur Wehr zu setzen versuchten. In ihnen kann man vielmehr verfolgen, wie die jeweiligen Autoren unter politischen Bedingungen, die darauf ausgelegt waren, ihre Lebensweisen und -ansichten gezielt zu verändern, oftmals mit Nachdruck darum rangen, ein eigenes Leben mit diesen Strukturen zu leben: Auch wenn das NS-Regime seiner Forderung nach Zuordnung ein Modell zugrunde legte, das eindeutig zwischen ,Anhängern‘ und ,Gegnern‘ unterschied, waren zahlreiche Tagebuchautoren darum bemüht, einen Weg der Zuordnung jenseits der geforderten Eindeutigkeit zu finden, um eigene politische Meinungen und individuelle Selbstsichten mit dem geforderten politischen Statement zu verbinden. Sogar dort, wo das NS-Regime konkrete symbolische Formen der Zuordnung durchsetzte und Zeitgenossen zu deren Anwendung zwang, dachten Tagebuchschreiber intensiv darüber nach, wie sich mit der vorgegebenen Form ihre spezifische Positionierung zum NS-Regime ausdrücken ließ“ (Steuwer: 2017: 546 f.). Hier findet sich erneut der Steuwer-Stil nebulöser Bandwurmsätze und unerklärter Präsuppositionen, der sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch zieht. Wer hat die Trennung von privatem Leben und nationalsozialistischer Politik „unterstellt“? Welche „übermächtigen Strukturen?“. Welches Modell der Zuordnung und warum nur eines (gab es keine Dynamik?). Warum waren einige Formen der Zuordnung „symbolisch“? Wie „zwang“ das NS-Regime die Zeitgenossen zur Anwendung dieser Formen? Man hätte das alles auch einfacher formulieren können: Die Zeitgenossen reflektierten in ihren Tagebüchern die strukturelle Entwicklung des NS-Regimes und versuchten, sie mit ihrem eigenen Leben und ihren eigenen persönlichen Präferenzen zu vereinbaren. Ihre Sozialisation, um an dieser Stelle einmal einen altmodischen soziologischen Begriff einzuführen, geschah primär im Modus der Resonanz mit dem politischen System, das ist die Hauptthese des Buches.

Finis: Singularitätsversessenheit

Jede Historikerin und jeder Historiker schreibt in der Gegenwart und bezieht sich von diesem Standpunkt aus auf die Vergangenheit; Geschichte ist deshalb eine Funktion des gegenwärtigen Standpunkts (Landwehr 2016: 39-45). Man kann Geschichtsschreibende danach klassifizieren, inwieweit sie diese Tatsache reflektieren und in ihr Werk einfließen lassen. Steuwer unterlässt jedwede Selbstreflexion. Sein Buch spiegelt eine Gegenwart wider, die der Soziologe Andreas Reckwitz (2017) die „Gesellschaft der Singularitäten“ nennt. Reckwitz unterscheidet zwischen zwei Abschnitten der Moderne, die je unterschiedlichen Logiken des Sozialen folgen: zum einen die klassische (oder auch organisierte) Moderne, die auf einer Logik des Allgemeinen basiert, und eine Spätmoderne (deren Beginn auf die 1980er Jahre zu datieren wäre), in der ein Prozess zu beobachten ist, den er als „Singularisierung“ bezeichnet. „Bei Singularitäten handelt es sich um Entitäten, die innerhalb von sozialen Praktiken als besondere wahrgenommen und bewertet, fabriziert und behandelt werden. Singularitäten sind das Ergebnis von sozial-kulturellen Prozessen der Singularisierung. Sie kommen innerhalb einer sozialen Logik des Besonderen zur Geltung. In einer solchen Logik werden Objekte, Subjekte, Räumlichkeiten, Zeitlichkeiten und Kollektive in Praktiken der Beobachtung, der Bewertung, der Hervorbringung und der Aneignung zu Singularitäten gemacht, es findet ein doing singularity statt“ (ebd.: 50 f.).

In Steuwers Buch entsteht eine regelrechte Singularitätsversessenheit. Die Singularitäten, die er „macht“, beziehen sich auf die Tagebücher als Bestandteil einer sozialen Logik des Besonderen (= Objekte), die Tagebuchschreibenden (= Subjekte), deren soziale Umfelder, einschließlich des Privaten (= Räumlichkeiten), das Jahr 1933 als Beginn der Notwendigkeit einer „Zuordnung“ zur „nationalen Erhebung“ (= Zeitlichkeit) und die Quellengattung „Tagebuch“ im Unterschied zu anderen möglichen Quellen wie den Lageberichten (= Kollektivität). Auch bei Steuwer finden sich jene vier Praktiken dieses „doing singularity“, die Reckwitz identifiziert: die Beobachtung besteht in einer Analyse der bisherigen Verwendung der Tagebücher in der NS-Forschung, die Bewertung erfolgt durch Abwertung des Anderen (anderer Quellengattungen und Autoren), die Hervorbringung basiert auf dem Anspruch auf eine holistischen Lektüre, und die Aneignung geschieht mittels einer historiografischen Praxis, die man als paraphrasierend-kommentierendes Schreiben entlang der Tagebücher bezeichnen kann. Diese Singularitätsversessenheit geht zudem mit einer Authentizitätsfiktion einher: als Tagebücher sind die Quellen bei Steuwer authentisch (gemeint ist hier: authentischer als andere Quellen), weil sie angeblich von realen Subjekten im unmittelbaren Prozess ihres eigenen Erlebens niedergeschrieben wurden. Verstärkt wird diese Authentizitätsfiktion durch die Unterschlagung des Sachverhalts, dass viele der Tagebücher organisatorisch gerahmt waren, und durch die Homogenisierung der in der Realität äußerst diversifizierten Gattung „Tagebuch“.

Die Präferenz für Subjektives und die damit einhergehende Hypostasierung der Tagebücher, der Steuwer sich wieder und wieder hingibt, führen zu insgesamt sieben Problemen: Erstens stehen Fragestellung und Analyse in einem unüberbrückbaren Gegensatz. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass Steuwers ambitioniertes Erkenntnisinteresse von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist, weil seine Dokumente schon aus strukturellen Gründen keine Antworten auf seine Frage zu liefern vermögen. Deren verkürzende Lektüre führt schließlich zweitens dazu, dass Steuwers Befunde einseitig auf die Wahrnehmung des Politischen begrenzt bleiben und das Private nur dann in den Blick gerät, wenn es „politisch“ wahrgenommen wird. Drittens kümmert sich Steuwer zu wenig um einen Sachverhalt, den man als die Verantwortung des Historikers für die Form bezeichnen könnte. Weder versucht er, die Stofffülle mittels theoretischer Konzepte zu bändigen, noch folgt seine dreiteilige Gliederung einem überschaubaren Schema. Dies führt zu einer mäandernden Narration mittels Substantivierungen und Bandwurmsätzen, deren Lektüre gerade im dritten Teil immer mehr zur Qual wird. Viertens tendiert Steuer dazu, jede Dynamik aus seiner Analyse zu tilgen. Individuelle Persönlichkeitsentwicklungen bleiben aufgrund seiner Herangehensweise ebenso im Dunkeln wie die gesamte Zeit des Zweiten Weltkrieges, für deren Aussparen es keinerlei methodisch zwingende Argumente gibt. Fünftens sind seine zentralen Begriffe „Positionierung“ und „politische Selbstgestaltung“ unterbestimmt, weil sie sich kaum auf die Wechselwirkungen zwischen Tagebuchschreibenden und politischem System beziehen. Dies erklärt sich sechstens aus der weitgehenden Ausblendung des NS-Regimes als Akteur, der primär in der sozialen Form „Organisation“ verfasst war. Siebtens schließlich räumt Steuwer beiseite, was die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und die NS-Forschung im Speziellen bisher an Methoden und Begriffen zur Interpretation des Nationalsozialismus benutzt hat.

Der siebte und letzte Punkt lässt sich an vielen Stellen nachweisen, an denen sich Steuwer mit konkurrierenden Konzepten auseinandersetzt, die er mit dem Argument zu kontern versucht, eine methodisch versierte Lektüre der Tagebücher sei gewinnbringender. Den Nachweis dafür bleibt er in der Regel schuldig. Subjektives und Objektives, Besonderes und Allgemeines stehen bei Steuwer nicht in einem (produktiven) dialektischen Spannungsverhältnis zueinander. Vielmehr lässt er das Allgemeine immer mehr im Besonderen untergehen und behauptet noch, letzteres sei „wahrer“. Dies widerspricht jener epistemologischen Warnung, die Joan Scott (2013: 144) für die Erfahrungsgeschichte ausgegeben hat: „Deshalb müssen wir bei historischen Prozessen darauf achten, dass die Position durch den Diskurs subjektiviert und dass die Erfahrungen der Subjekte produziert werden“. Bei Steuwer sind die Erfahrungen zwar auch produziert, aber nicht durch Diskurse, Felder oder soziale Systeme, sondern durch die je individuellen Wahrnehmungs- und Aneignungsweisen der NS-Politik, die in den Tagebüchern zum Ausdruck kommen. Sie sind, wenn man so will, selbstreferenzielle Produkte der jeweiligen Personen. Steuwer meint, er habe sich auf der Referenzebene „Gesellschaft“ bewegt, liefert aber in Wahrheit nur eine Variante der heute üblichen Kulturgeschichte. Man kann die von mir vorgebrachte Kritik, frei nach Reckwitz, auch als eine lesen, die aus der Perspektive der klassischen Moderne vorgenommen wird und die Präferenzen der Spätmoderne, für die Steuwers Herangehensweise steht, in Zweifel zieht. Dann wären die Positionen des hier schreibenden Ego und des kritisierten Alter inkommensurabel und man könnte geneigt sein, diesen Unterschied einfach stehen zu lassen und produktiv zu machen. Epistemologisch hieße das, sich dem Nationalsozialismus entweder auf gesellschafts- oder auf kulturgeschichtliche Art und Weise anzunähern. Einstweilen glaube ich allerdings, dass man den Nationalsozialismus mit der Brille der Gesellschaftsgeschichte schärfer sehen kann als mit der Brille der Kulturgeschichte. Eine Widerlegung dieser Ansicht ist natürlich nicht ausgeschlossen, aber die kulturgeschichtliche Analyse des Nationalsozialismus steckt noch in den Kinderschuhen (Cultural Turn 2017). Steuwers Buch trägt wenig dazu bei, diesen Zustand zu beenden.

Referenzen

Cultural Turn und NS-Geschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017), S. 219-271

Friedländer, Saul: Das Dritte Reich und die Juden, 2 Bde., C.H. Beck: München 1998-2006

Fulbrook, Mary: Dissonant Lives. Generations and Violence Through the German Dictatorships, Oxford University Press: Oxford 2011

Landwehr, Achim: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, S. Fischer: Frankfurt am Main 2016

Lejeune, Philippe: „Liebes Tagebuch”. Zur Theorie und Praxis des Journals, belleville: München 2014

Longerich, Peter: „Davon haben wir nichts gewusst“! Die Deutschen und die Judenverfolgung, Siedler: München 2006

Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2000

Maubach, Franka: Die Stellung halten: Kriegserfahrungen und Lebensgeschichten von Wehrmachthelferinnen, Vandenhoeck&Ruprecht: Göttingen 2009

Niethammer, Lutz (Hg.): „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll.“ Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, Dietz: Berlin/Bonn 1983

ders. (Hg.): „Hinterher merkt man, daß es richtig war, daß es schiefgegangen ist.“ Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet, Dietz: Berlin/Bonn 1983

ders./Plato, Alexander von (Hg.): „Wir kriegen jetzt andere Zeiten.“ Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern, Dietz: Berlin/Bonn 1985

Nolzen, Armin: Die NSDAP, der Krieg und die deutsche Gesellschaft, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945, Teilbd. 1: Politisierung – Vernichtung – Überleben, im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hg. v. Jörg Echternkamp, Oldenbourg: München 2004, S. 99-193

Patel, Kiran Klaus: Education, Schooling, and Camps, in: A Companion to Nazi Germany, ed. by Shelley Baranowski, Armin Nolzen, and Claus-Christian Szejnmann, Wiley: Hoboken/Chichester 2018, S. 181-197

Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Suhrkamp: Berlin 2017

Reinicke, David/Stern, Kathrin/Thieler, Kerstin/Zamzow, Gunnar (Hg.): Gemeinschaft als Erfahrung. Kulturelle Inszenierungen und soziale Praxis 1930-1960, Schöningh: Paderborn 2014

Scott, Joan Wallach: Die Evidenz der Erfahrung, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 24 (2013), S. 138-166

Stargardt, Nicholas: Der deutsche Krieg 1939-1945, Fischer: Frankfurt am Main 2015

Steuwer, Janosch: „Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse“. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933-1939, Wallstein: Göttingen 2017

Taubitz, Jan: Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft, Wallstein: Göttingen 2016

Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1700-1989/90, Bd. IV: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten, C.H. Beck: München 2003

Gewalt im System, achtes und letztes Kapitel

„Gewalt im System“, so lautet der Titel der hier geposteten, insgesamt sieben Eintragungen, die es jetzt, mit einiger Verspätung, zusammenzufassen gilt. Alles begann mit dem unter „Gewalt im System, erstes Kapitel“ analysierten Aufsatz des Wittener Soziologen Dirk Baecker (2007). Es waren zwei methodologische Einsichten Baeckers, die mir als maßgebliche Inspirationsquelle dienten. Zum einen finde Gewalt immer in einem (sozialen) System statt, sei also unter Bezug auf eine spezifische Systemreferenz in den Blick zu nehmen, zum anderen erfordere das Phänomen einen strikt beobachterrelationalen Zugang. Einerseits sei Gewalt im Rahmen von Interaktionen, Organisationen und Funktionssystemen relevant, andererseits müsse sie immer auch durch einen Beobachter zugerechnet werden. In der Geschichtswissenschaft obliegt dies einem psychischen System. Ich habe hier die folgenden Beobachter vorgestellt: einen US-amerikanischen Historiker (Browning 1993), einen deutschen Sozialpsychologen (Welzer 2005), einen deutschen Historiker (Wildt 2007), eine deutsche Soziologin (Christ 2011), einen deutschen Organisationsoziologen (Kühl 2014) und einen israelischen Historiker (Blatman 2011). Diese sechs Personen gehören zwei Generationenkohorten an (Browning ist 1944, Wildt 1954, Welzer 1958 und Blatman 1953 geboren, wohingegen Kühl und Christ beide Jahrgang 1966 sind), und ihre wissenschaftlichen Ausbildungswege unterscheiden sich teils stark voneinander.

Dennoch gibt es überraschend viele Gemeinsamkeiten in ihrem Bemühen, die NS-Massengewalt zu beschreiben. Erstens die Fokussierung auf Handlungen (von Individuen und Kollektiven) und ein damit einhergehender Primat individual- und kollektivpsychologischer Erklärungen, zweitens deren Einbettung in face-to-face Interaktionen, drittens die Überbetonung situativer Aspekte und die weitgehende Vernachlässigung konditionierender Elemente der NS-Gesellschaft, viertens die unzureichende Berücksichtigung von zeitlichen Abläufen (als Differenz von vorher und nachher) und des Faktors „Dynamik“ sowie fünftens die Unterschätzung der Nachzeitlichkeit der Quellen und die daraus resultierende Hypostasierung einer Geschichte in Echtzeit. Im Grunde genommen laufen die Monografien dieser Beobachter auf eine Tautologie der NS-Gewalt hinaus. Demnach war das NS-Regime gewaltsam, weil es oder seine Protagonisten das auch sein wollten. Oder wie Ulrich Herbert (2014: 305-392) kurz und bündig formuliert: Gewalt sei dem Nationalsozialismus nachgerade inhärent gewesen. Quod erat demonstrandum.

Eine sechste und letzte Gemeinsamkeit, die mit bei der Re-Lektüre meiner Eintragungen „Gewalt im System“ fast wie Schuppen vor die Augen gefallen ist, gilt es ausführlicher zu würdigen. Das System, in dem sich die von den genannten Beobachtern untersuchte Gewalt abspielte, war eine Gesellschaft im Krieg, also ein Gewaltzustand in Permanenz. Dabei handelte es sich für die Zeit zwischen 1933 und 1937/38 um einen Krieg nach innen, wie es Nikolaus Wachsmanns (2016) Gesamtdarstellung zu den Konzentrationslagern nachdrücklich gezeigt hat; für die Zeit zwischen 1938/39 bis 1944/45 hingegen um einen militärischen Eroberungsfeldzug, der sich auf der Basis einer Massenmobilmachung vollzog und tendenziell zu einem „totalen Krieg“ mutierte. Bei den hier besprochenen Autoren wird „Krieg“ jedoch höchstens als äußerlicher Rahmen thematisiert, der, wenn es um die Gewalttaten geht, kaum eine Rolle mehr spielt. Gewaltsame Situationen im Nationalsozialismus waren aber immer entweder im Krieg nach innen oder nach außen situiert. Vielleicht kann die systemtheoretische Einsicht, dass „Krieg“ ebenfalls ein soziales System ist (Matuszek 2007), diesem Sachverhalt besser gerecht werden. Ich werde diese Frage bald unter einer Serie von Eintragungen mit dem Titel „KriegSystem“ ausführlicher erörtern.

Schließlich eine Binsenweisheit, deren Berücksichtigung mir ebenfalls vonnöten erscheint: Kein politisches System kann sich einzig und allein auf die Macht der Bajonette stützen. Konzentriert sich die Forschung allzu sehr auf Phänomene der Gewalt, kann die immense Anziehungskraft des NS-Regimes im Grunde genommen nicht erklärt werden (es sei denn, man wollte behaupten, es sei nur die Ästhetik der Gewalt gewesen, die den Nationalsozialismus so attraktiv gemacht habe). Die neuere Kulturgeschichte, die für die Gewaltforschung von großer Bedeutung gewesen ist (so jedenfalls der Fokus in Podium Zeitgeschichte 2017), beginnt mittlerweile sehr zögerlich damit, sich auch Gegenständen wie „Vergnügen“ und „Liebe“ zu widmen (Swett/Ross/d‘Almeida 2011; Föllmer 2016). Welche erkenntnistheoretische Begründung gibt es eigentlich dafür, diese beiden Thematiken so sträflich zu vernachlässigen, wie bislang geschehen? Die mehr als 50 Millionen Toten, die der Nationalsozialismus zu verantworten hatte, lautet die naheliegende Antwort. Was aber sind die Voraussetzungen von Massenmord? Nicht vielleicht ein politisches System, dem es für den Großteil der Bevölkerung gelingt, eine weitgehende Normalität herzustellen (oder diese zumindest zu suggerieren) und das eine Vielzahl von Freizeitangeboten für privilegierte Personen parat hält? Nicht vielleicht eine Gesellschaft, in der sich Täterinnen und Täter, Mitläuferinnen und Mitläufer lieben (können) und zugleich andere stigmatisieren und terrorisieren?

Referenzen

Baecker, Dirk: Gewalt im System, in: ders.: Wozu Gesellschaft?, Kadmos: Berlin 2007, S. 29-52 [ursprgl. erschienen: Soziale Welt 47 (1996), S. 92-109]

Blatman, Daniel: Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords, Rowohlt Verlag: Reinbek bei Hamburg 2011

Browning, Christopher R.: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 1993

Christ, Michaela: Die Dynamik des Tötens: Die Ermordung der Juden von Berditschew. Ukraine 1941-1944, Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 2011

Föllmer, Moritz: „Ein Leben wie im Traum“. Kultur im Dritten Reich, C.H. Beck: München 2016

Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, C.H. Beck: München 2014

Kühl, Stefan: Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Suhrkamp: Berlin 2014

Matuszek, Krzystof C.: Der Krieg als autopoietisches System. Die Kriege der Gegenwart und Niklas Luhmanns Systemtheorie, VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden 2007

Podium Zeitgeschichte: Cultural Turn und NS-Geschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017), S. 219-271

Swett, Pamela/Ross, Corey/d’Almeida, Fabrice: Pleasure and Power in Nazi Germany, Palgrave Macmillan: Houndmills 2011

Wachsmann, Nikolaus: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Siedler: München 2016

Welzer, Harald: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Unter Mitarbeit v. Michaela Christ, S. Fischer: Frankfurt am Main 2005

Wildt, Michael Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburger Edition: Hamburg 2007