Suche nach der Geschichte einer Erfahrung
Was eigentlich ist mit der guten alten Erfahrungsgeschichte passiert? In den 1970er und 1980er Jahren seinerzeit als „Oral History“ in den historiografischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland eingeführt (bahnbrechend Niethammer/von Plato 1983-1985), um die Beziehungen zwischen „großer“ Politik“ und der subjektiv erlebten, erinnerten und verarbeiteten Geschichte der „kleinen“ Leute zu beleuchten, scheint es um sie in den letzten Jahren ruhiger geworden zu sein. Nur in der NS-Forschung wird über „Erfahrung“ noch häufiger gesprochen und gearbeitet (Maubach 2009; Reinicke/Stern/Thieler/Zamzow 2014; Stargardt 2015), und es mehren sich die Anzeichen dafür, dass die emphatische Verwendung dieses Wortes stark zugenommen hat, nicht zuletzt als Gegenwendung gegen die vorwaltende Dominanz politikgeschichtlicher Ansätze. Einen Versuch, die gesamte Bandbreite der Erfahrungen „ganz normaler Deutscher“ nach 1933 zu rekonstruieren, hat es bisher jedoch nicht gegeben (zu den jüdischen Opfern des NS-Regimes Friedländer 1998-2006; jetzt auch Taubitz 2016). Die Bochumer Dissertation des Historikers Janosch Steuwer (2017), um die es im Folgenden geht, hätte dies durchaus leisten können. Zwar verwendet Steuwer das Wort „Erfahrung“ selten und spricht lieber von „individueller Herausforderung“ durch den Nationalsozialismus. Letztlich geht es ihm aber doch um das, was sich die Erfahrungsgeschichte einstmals auf ihr Banner geschrieben hatte: das Verhältnis zwischen politischen Ereignissen und individuellem Erleben in der NS-Zeit nachzuzeichnen.
Wer beobachtet was?
Steuwer, 1983 in Duisburg geboren, studierte von 2003-2008 Bachelor of Arts in Geschichte und Politikwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Bielefeld. Von 2004-2007 war er Studentische Hilfskraft am Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum, 2008 dort auch Wissenschaftliche Hilfskraft. Von 2009-2011 arbeitete Steuwer im Forschungsprojekt zur „Geschichte der Stiftung Erinnerung Verantwortung und Zukunft und ihrer Partnerorganisation“ am Projekt „Öffentliche Meinung und Zwangsarbeiterentschädigung“, von 2011-2014 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Der Nationalsozialismus als biografische und gesellschaftliche Herausforderung. Formen des individuellen Umgangs mit dem Nationalsozialismus nach 1933 und 1945“ und fertigte seine Promotion „Die individuelle Herausforderung des Nationalsozialismus“ an, die er 2015 abschloss. Von 2014-2016 vertrat Steuwer die wissenschaftliche Assistentenstelle am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Ruhr-Universität Bochum (Prof. Dr. Constantin Goschler), und seit September 2016 wirkt er als Oberassistent an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich (Prof. Dr. Svenja Goltermann) in der Schweiz. Goschler und Goltermann waren auch die Erst- und Zweigutachter von Steuwers Dissertation, die 2017 im Göttinger Wallstein-Verlag publiziert wurde. Seine Fragestellung lautet darin wie folgt: „Wie die Deutschen auf die Herausforderung des Nationalsozialismus reagierten, wie sich im Zuge dessen Vorstellungen davon veränderten, wer man selber war, in welcher Zeit man lebte und in welchem Verhältnis man zu dieser Zeit stand, ist das eine Thema dieses Buches. Gleichzeitig zeigt es, inwiefern und auf welche Weise die verschiedenen Wahrnehmungs- und Reaktionsweisen der Zeitgenossen wiederum das NS-Regime beziehungsweise dessen Möglichkeiten zur Politikgestaltung prägten. Indem die Regimeführung ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen durch die Einbindung breiter Gesellschaftsschichten durchzusetzen gedachte, war und blieb die Realisierung der NS-Politik in zentralen Bestandteilen von der massenhaften Veränderung individuellen Verhaltens abhängig. In diesem doppelten Sinn nimmt das Buch die individuelle Herausforderung des Nationalsozialismus in den Blick: die Herausforderung, die das NS-Regime für das Denken und Handeln der einzelnen Zeitgenossen darstellte, und die Herausforderung, die die massenhaften Reaktionen der einzelnen Zeitgenossen für die Politikgestaltung des Regimes bildeten“ (Steuwer 2017: 16).
Steuwers Erkenntnisinteresse ist also ein doppeltes: er will wissen, wie die Zeitgenossen auf die Übernahme der politischen Macht durch den Nationalsozialismus reagierten, und er will wissen, wie sich diese Verhaltensweisen wiederum auf die Gestaltungsmöglichkeiten des NS-Regimes auswirkten. Die zitierten Sätze basieren auf vier teils widersprüchlichen Präsuppositionen: 1. die Präsupposition von challenge und response, konzipiert als Kausalverhältnis und Differenz von vorher und nachher, wobei das NS-Regime (wer oder was immer das ist) agiert, die deutsche Bevölkerung (wer oder was immer damit gemeint ist) reagiert; 2. die Präsupposition eines Wandels individueller Selbstbilder nach 1933 aufgrund der politischen Ereignisse (und nicht etwa aufgrund von persönlich-privaten Erfahrungen); 3. die Präsupposition eines Machtkreislaufs, bei dem die NS-Politik die individuellen Verhaltensweisen zwar veränderte, gleichzeitig aber auch in der eigenen Reichweite von diesen Veränderungen abhing; schließlich 4. die Präsupposition, es sei dem NS-Regime um eine Einbindung (oder Integration) möglichst breiter Bevölkerungskreise gegangen. Die Präsuppositionen 1 und 3 beziehungsweise 2 und 4 stehen aber in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Challenge und response als Denkmodell funktioniert im Verein mit der These des Machtkreislaufs nur dann, wenn es zirkulär konzipiert wird, also die response der einen Seite wieder als challenge der anderen gedacht wird, und der Wandel individueller Selbstbilder findet auf einer anderen Referenzebene statt als die gesellschaftliche Integration.
Die Quellen
Um die die Reaktionen „der Deutschen“ auf die Herausforderung des Nationalsozialismus und deren Rückwirkungen auf die Gestaltungsmöglichkeiten des NS-Regimes zu rekonstruieren, benutzt Steuwer im Großen und Ganzen zwei Quellengattungen: zum einen Tagebücher, die archivalisch überliefert sind, zum anderen eine große Zahl zeitgenössischer Druckschriften, Zeitungsartikel sowie wissenschaftlicher Editionen. Zur ersten Quellengruppe zählen, so Steuwer, „rund 140 bisher weitgehend unveröffentlichte[r] Tagebücher aus dem Zeitraum 1930 bis 1939“ (ebd.: 27). Darunter befinden sich „eine ganze Reihe von Büchern, deren Verfasser Mitglieder der NSDAP waren oder sich ehren- beziehungsweise hauptamtlich für das NS-Regime betätigten […]. Genauso befinden sich unter den herangezogenen Tagebüchern Dokumente von Menschen, die sich in Distanz zum NS-Regime verorteten und dessen Politik schreibend immer wieder kritisierten […]. Ebenso sind jüdische Deutsche unter den untersuchten Tagebuchautoren, die nicht wegen ihrer politischen Ansichten, sondern ihrer vermeintlich rassischen Minderwertigkeit in einen Gegensatz zum NS-Regime gerieten“ (ebd.: 31). Dass Steuwer einen sehr breiten Begriff von „Tagebuch“ vertritt, erfährt man jedoch nicht aus der Einleitung, sondern erst im weiteren Verlauf der Lektüre seines Buches. Mindestens vier verschiedene Tagebuch-Typen sind hierbei zu unterscheiden: Erstens das seit dem 19. Jahrhundert klassische bürgerliche Medium individueller Selbstvergewisserung, zweitens Tagebücher aus dem Dienstalltag von NS-Funktionären, die als Dokumentation für die Nachwelt dienten (klassisch: Joseph Goebbels) (ebd.: 228-234), drittens Elterntagebücher und vorgedruckte Notizbücher oder Kalender, die der individuellen Dokumentation spezifischer Lebensabschnitte verpflichtet waren, und viertens vom NS-Regime inspirierte „Erlebnisbücher“.
Steuwers neben den Tagebüchern zweite Quellengruppe lässt sich im Großen und Ganzen dem Bereich der NS-Medienlenkung zuordnen. Dazu zählen die bekannten Lageberichte, mit denen man die vermeintliche Stimmung der Bevölkerung zu rekonstruieren trachtete, das regierungs- und parteiamtliche Schrifttum, in dem allgemeine Verhaltensnormen kodifiziert waren, und die Sammlungen von Reden und Proklamationen führender Nationalsozialisten. Interessanterweise hat Steuwer keine Quellen benutzt, die die Entscheidungsbildungsprozesse in den NS-Behörden thematisieren; ein für seine Frage nach den Reaktionsweisen des NS-Regimes problematisches Versäumnis. Wie das NS-Regime auf die individuellen (kollektiven) Verhaltensweisen reagierte und welche Gestaltungsnotwendigkeiten sich daraus ergaben, kann mittels der einschlägigen Lageberichte allein nicht analysiert werden, denn sie spiegeln ja nur die Wahrnehmungsebene der Berichterstatter wider. Um die Reaktionsweisen des NS-Regimes in den Blick zu bekommen, müssen zusätzlich aber auch Gesetzgebungsprozesse und Verwaltungsvorgänge untersucht und an die Wahrnehmungsebene rückgekoppelt werden. Aus den beiden Quellengruppen Steuwers ergibt sich insofern ein doppeltes Ungleichgewicht: Zum einen konnten Tagebücher als private Dokumente gar nicht vom NS-Regime wahrgenommen worden sein (ausgenommen solche, die bei Haussuchungen bei der politischen Opposition beschlagnahmt wurden). Zum anderen waren die Wahrnehmungen des NS-Regimes, wie sie sich in den Lageberichten widerspiegelten, nur die unabdingbare Vorstufe späterer Reaktionen und damit noch kein Beleg für politische Gestaltung. Im Grunde genommen bekommt Steuwer mittels der von ihm herangezogenen Quellen entweder höchst individuelle Aneignungen des Nationalsozialismus oder die Wahrnehmung kollektiver Verhaltensweisen durch die Berichterstatter in seinen Blick. Beides geht nur schwer zusammen.
Methodische Postulate
Es könnte natürlich sein, dass er eine besondere Methodik entwickelt, die es ihm dennoch erlaubt, seine beiden Ausgangsfragen – die Verhaltensweisen der Bevölkerung auf der einen Seite, die Reaktionen des NS-Regimes auf der anderen Seite – miteinander zu verbinden. Wie also nähert sich Steuwer den Quellen, wie will er sie lesen, wie reflektiert er auf ihre inhaltliche Aussagen und deren Reichweite? In der Einleitung beschränkt er sich auf die Gattung „Tagebuch“, die er mit dem französischen Literaturwissenschaftler Philippe Lejeune (2014) als autobiografische Textform begreift, die referentiell ist, d.h. eine Realität schildert, die zwar literarisiert und stilisiert ist, gleichwohl aber mittels philologischer Analyse überprüfbar ist (Steuwer 2017: 22, 26). Nach einer knappen Schilderung jener sozialen Ausbreitung, die das Tagebuchschreiben zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfuhr, und der Kritik der bisherigen Benutzung dieser Quellengattung in der NS-Forschung kommt Steuwer zum zentralen Punkt „Tagebücher lesen“. Sein entscheidendes Postulat lautet wie folgt: „Bei der Lektüre widme ich dem Prozess des Tagebuchschreibens besondere Aufmerksamkeit. Wie in einem Tagebuch geschrieben wird, welche Themen, Gegenstände und Fragen behandelt werden und wie sich dies im Zeitverlauf veränderte, hält entscheidende Einsichten zum individuellen Umgang mit den Herausforderungen des Nationalsozialismus bereit […]. Durch die Formenvielfalt, mit der in den 1930er Jahren Tagebücher geführt werden konnten, und das Fehlen allgemeiner Schreibkonventionen muss dafür für jedes Tagebuch dessen jeweiliger Gebrauchszusammenhang herausgearbeitet werden, also die Intentionen, mit denen der Schreibende das Tagebuch führte, und seine durch sie bestimmte Auswahl an aufgeworfenen Themen und Fragen. Erst vor diesem Hintergrund werden Veränderungen des Tagebuchschreibens erkenn- und deutbar“ (ebd.: 33). Steuwer also geht es um eine holistische Erfassung jedes Tagebuchs, die intensive Beschäftigung mit deren Verfassern über einen langen Zeitraum, eine Stilkritik und eine Berücksichtigung aller nur erdenklichen Themen und Kontexte, die die Schreibenden verhandelten.
Und die zweite Quellengattung, die Lageberichte? Sie werden nicht in der Einleitung unter die Lupe genommen, sondern im entsprechenden Teil des Buches, in dem sie eigentlich hätten zur Auswertung kommen sollen (ebd.: 359-378). Darin folgt Steuwer zunächst einmal der Kritik, die Peter Longerich (2006) in seiner Studie über die NS-Judenverfolgung und die Reaktionen der Bevölkerung an der bisherigen Verwendung dieser Quellen in der Forschung vorgebracht hat. Er betont zurecht, dass die Berichte integraler Bestandteil der Meinungsbildungsprozesse in einer gelenkten Öffentlichkeit gewesen seien und den Anspruch des NS-Regimes widerspiegelten, möglichst schnell auf kollektive Stimmungsveränderungen zu reagieren und die eigene Politik daran anzupassen (Steuwer 2017: 366, 377). Zugleich kritisiert er Longerich aber auch dafür, nicht die politischen Einstellungen der Deutschen in den Mittelpunkt gerückt zu haben, sondern die Funktion der Berichte für das NS-Regime. Für Steuwer ist das Folgende wichtiger: „Welche Meinung besaßen die Deutschen vom NS-Regime, wie reagierten sie auf dessen politische Entscheidungen, in welcher Weise wurde damit die Bevölkerung in die nationalsozialistische Politikgestaltung einbezogen und welcher gesellschaftliche Rückhalt ergab sich daraus für das Regime?“ (ebd.: 375). Dies sind vier Fragen, die sich nur auf die individuellen Verhaltensweisen beziehen, also auf das erste seiner beiden zentralen Erkenntnisinteressen. Die Herausforderung, die die Reaktionen der Zeitgenossen für die Politikgestaltung des NS-Regimes bilden, sucht man hier vergeblich! Und drei Seiten später kommt aus heiterem Himmel die Aussage, er interessiere sich in diesem Teil des Buches für den Einzelnen „und seine individuelle Beschäftigung mit der Regierungspolitik“, die sich aus den Tagebüchern weit besser dokumentieren lasse als aus den Lageberichten (ebd.: 378). Konsequenterweise legt Steuwer letztere einfach beiseite, wendet sich den Tagebüchern zu und will plötzlich nur noch das darin zum Ausdruck kommende individuelle „politische Bewerten“ analysieren. Verwundert reibt sich der Leser die Augen und fragt sich, was hier eigentlich genau passiert ist. Steuwer bricht an dieser Stelle unvermittelt mit dem eingangs skizzierten Erkenntnisinteresse, die Wechselwirkungen zwischen individuellen Verhaltensweisen und Gestaltungsmöglichkeiten des NS-Regimes zu untersuchen, und erklärt einen Großteil seiner Quellen (die Lageberichte) einfach für bedeutungslos! Über die gravierenden Probleme, die sich daraus ergeben, wird weiter unten zu handeln sein.
Und wie Steuwer seine Quellen wirklich liest …
Nachdem der Leser in der Einleitung mit einer großen Anzahl methodischer Vorbemerkungen zu den Tagebüchern überschüttet wurde, stellt sich die Frage, inwieweit diese im weiteren Verlauf der Studie umgesetzt werden. Der Verdacht, dass die eingangs propagierte holistische Lektüre der Tagebücher angesichts ihrer immensen Zahl nicht durchzuhalten sein würde, bestätigt sich über das gesamte Buch hinweg, das aus drei Teilen besteht. Im ersten Teil (ebd.: 43-178) geht es darum, „wie die Zeitgenossen mit dem weitreichenden Zugehörigkeitsanspruch des NS-Regimes umgingen, die alltäglichen sozialen Beziehungen der Deutschen grundlegend zu verändern“ (ebd.: 46). Der zweite Teil (ebd.: 179-351) behandelt den umfassenden Erziehungsanspruch des NS-Regimes und den Versuch, die Zeitgenossen „zur Veränderung ihrer Selbstvorstellungen und Lebensweisen anzuhalten“ (ebd.: 183). Der dritte Teil (ebd.: 353-548) interessiert sich für den „vom NS-Regime formulierten Anspruch auf eine Neubestimmung der Beziehungen zwischen Regierung und Bevölkerung und den veränderten Formen politischen Handelns und Bewertens […], die nach 1933 als Bestandteil des neuen politischen Systems des Nationalsozialismus entstanden“ (ebd.: 357). Diese gedrechselten Sätze deuten bereits an, dass Steuwer kein Freund klarer Formulierungen ist, sondern Substantivierungen in Aufzählungsform bevorzugt.
Ähnlich unbefriedigend ist die Art und Weise, wie er die Tagebücher, die in allen drei Teilen des Buches im Mittelpunkt stehen, präsentiert. Das Grundprinzip besteht in einer thematischen Gliederung nach Sachgesichtspunkten; chronologische Aspekte treten demgegenüber in den Hintergrund. Etwa ein Viertel der Tagebücher wird auf den immerhin fast 600 Seiten nur wenige Male erwähnt, etwa die Hälfte bis zu zehn Mal, und ein letztes Viertel findet das gesamte Buch hindurch Erwähnung. Nur bei den öfter genutzten Tagebüchern versorgt Steuwer den Leser mit ausführlichen biografischen Informationen, wie die Beispiele des 1887 in Hamburg geborenen Hans Maschmann (ebd.: 82 f.) oder der 1914 im Ruhrgebiet zur Welt gekommenen Inge Thiele (ebd.: 147 f.) zeigen. Auch in solchen Fällen werden im Verlauf der Untersuchung immer wieder wichtige biografische Informationen nachgeschoben; bei den weniger oft genannten Personen muss sich der Leser mit den Lebensdaten, vielleicht auch noch mit Familienverhältnissen und knappen Charakterisierungen der politischen Position begnügen. Dass es keine standardisierten Personenkommentare gibt, ist im Zusammenhang mit dem Postulat einer holistischen Lektüre ein Nachteil. Die Tagebücher können ihre analytische Kraft nur dann entfalten, wenn die darin zum Ausdruck kommende Persönlichkeitsentwicklung möglichst detailliert präsentiert wird, damit auch deren Dynamik nachzuvollziehen ist. Dass hierbei auch zentrale Differenzkategorien wie Klasse, Geschlecht und Alter zu berücksichtigen wären, ist Steuwer klar (ebd.: 29). Aber gerade die Altersdifferenz wird von ihm nicht in der Bedeutung gewürdigt (ebd.: 202 ff.), die ihr für die Reaktionsweisen der Tagebuchschreibenden zukam. Im Grunde genommen homogenisiert Steuwer die Tagebücher in einer unzulässigen Art und Weise.
Ein weiteres Problem, das sich insbesondere im Kapitel „Das Private und die Frage nach den Grenzen des politischen Systems des Nationalsozialismus“ (ebd.: 493-548) zeigt, besteht in der ausschließlich auf das Politische fixierten Lektüre der Tagebücher. Diese ist ja bereits durch die Fragestellung vorgegeben, weil Steuwer die individuelle Herausforderung herausarbeiten will, die sich nach 1933 durch den Nationalsozialismus ergab, und dieser seit der Weimarer Zeit als Partei auftrat, die sich jetzt anschickte, das politische System zu beherrschen. Dadurch wird die Persönlichkeitsentwicklung der Tagebuchschreibenden von vornherein auf politische Aspekte festgelegt. Um diese Schieflage zu vermeiden, hätte Steuwer anhand jedes einzelnen Tagebuchs exakt quantifizieren müssen, in welchen Anteilen politische und private Themen verhandelt wurden. Eine weitere Möglichkeit wäre gewesen, das Private, wie es in den Tagebüchern zum Ausdruck kommt, ausführlicher zu vermessen. Auch dies unterbleibt, denn das eben erwähnte Kapitel ist größtenteils aus der Sekundärliteratur gearbeitet. Die darin entwickelte These, es habe auch „ohne das gewaltsame Eindringen politischer Akteure in die eigene Wohnung […] in den 1930er Jahren keine unpolitische, vom politischen System nicht tangierte räumliche Privatheit mehr“ gegeben (ebd.: 516), vermag allerdings nicht zu überzeugen, weil Steuwer auch hier die wenigen Tagebücher, die seinen Ausführungen zugrundeliegen, immer nur im Hinblick auf die Reflexion politischer Ereignisse auswertet. Die Frage nach dem Privaten in der NS-Zeit ist gar nicht zu beantworten, wenn man Familienleben, Freundschaften, religiösen Überzeugungen, Nachbarschaft, Freizeitgestaltung und alltäglichen Verrichtungen nicht berücksichtigt.
Welche Herausforderung(en)?
In allen drei Teilen des Buches betont Steuwer die Herausforderung, die der Nationalsozialismus für jeden Einzelnen seiner Tagebuchschreibenden darstellte. Im Zentrum steht die Annahme, das NS-Regime habe von jedem Einzelnen eine explizite und eindeutige Zuordnung verlangt, soll heißen: eine Bejahung des Regimes aus vollem Herzen und zu jeder Zeit (ebd.: 65, 96, 160 u. ö.). Was aber heißt „Zuordnung“? Wie könnte sich diese in Tagebüchern manifestieren? Und wie könnte das NS-Regime die Erfüllung seiner Ansprüche nachgeprüft haben? Mit diesen Fragen sieht sich der Leser konfrontiert, und Steuwer lässt ihn in weiten Teilen alleine. Methodisch hätte es sich angeboten, die je individuellen Herausforderungen aus den Tagebüchern zu entnehmen, sie vielleicht zu typologisieren und die individuellen Umgangsweisen nachzuzeichnen. Im ersten Teil des Buches verbleibt Steuwer durchweg an der Oberfläche. Immer wieder konstatiert er, dass der Nationalsozialismus dazu zwang, Stellung zu nehmen (ebd.: 57, 63, 68 u. ö.), und redet mit seinen Gewährsleuten von einer „Forderung nach Zuordnung zum neuen Regime“ (ebd.: 65). Selten genug wird deutlich, um welche Herausforderungen es eigentlich ging. Einmal erwähnt ein Tagebuchschreiber die Erwartung an alle Gemeindebeamten, bei amtlichen Handlungen in Uniform zu erscheinen (ebd.: 108); andere heben auf das Hissen der Hakenkreuz-Fahne im Frühjahr 1933, den „Hitler-Gruß“, die Aufforderung, der NSDAP oder ihren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden beizutreten, oder den Druck bei den Sammel- und Spendenaktionen des NS-Regimes ab (ebd.: 137 ff.). Der Forschung sind viele andere Verhaltensanforderungen bekannt, mit denen der Nationalsozialismus in das Alltagsleben der Individuen eingriff. Es stellt sich die Frage, ob sie in den Tagebüchen nicht im Detail thematisiert wurden oder ob Steuwer sie dem Leser nur nicht in der Breite mitteilt. Zwar schiebt er einige dieser Herausforderungen, die eigentlich in den ersten Teil gehört hätten, im dritten Teil nach, etwa die Teilnahmebereitschaft an NS-Massenveranstaltungen, Radio-Gemeinschaftempfängen und Reichstagswahlen, wie sie anlässlich der „Volksabstimmungen“ 1933, 1934 und 1938 inszeniert wurden. Dies ändert jedoch nichts am Befund, dass diese Herausforderungen niemals systematisiert werden.
Dieses Problem resultiert vor allen Dingen daraus, dass Steuwer an keiner Stelle des Buches die Perspektive des NS-Regimes berücksichtigt und dessen Erwartungshorizonte, die sich zudem im Zeitverlauf dynamisch wandelten, nicht konsequent in den Blick nimmt. Am deutlichsten zeigt sich dies in seiner völligen Vernachlässigung des Faktors „Organisation“. Eine der wichtigsten Herausforderungen, die sich nach 1933 etablierten, war bekanntlich der vielfältige Druck, einer jener Organisationen beizutreten, die im weitesten Sinne zur NSDAP zählten (Nolzen 2004). Das weiß natürlich auch Steuwer, ohne diesen Sachverhalt jedoch einmal auf den Punkt zu bringen. Wie nebenbei erwähnt er, dass sich ein Tagebuchschreiber „im Sommer 1933 mit dem Beitritt in die SA auch organisatorisch zugeordnet hatte“ (Steuwer: 2017: 72), ein zweiter sich im Frühjahr 1933 bemühte, in die NSDAP und in die SA aufgenommen zu werden (ebd.: 87), ein dritter sich nach einem dreijährigen Engagement in der Hitler-Jugend (HJ) „im Rückblick ernüchtert“ und „erschöpft“ fühlte (ebd.: 129), ein vierter im Frühjahr 1933 aus der Zentrumspartei austrat und in die NSDAP eintrat (ebd.: 156) und ein fünfter Mitglied der HJ war (ebd.: 251). Schließlich erfährt man von einem weiteren Protagonisten, der sich immer penibel genau notierte, wer aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis in die Partei eingetreten war (ebd.: 145 f., 157, 169), dreihundert Seiten später, dass er sich in der NS-Handels- und Gewerbeorganisation, der radikal antisemitischen Mittelstandsvereinigung der NSDAP engagierte (ebd.: 425). Bei allen diesen Beispielen ist aus den Fußnoten zu entnehmen, dass die Tagebuchschreibenden das Problem der Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft in diesen Organisationen durchaus intensiv reflektierten. Obwohl Steuwer dieser Sachverhalt, wie seine quellenkritischen Bemerkungen zeigen (ebd.: 31), vor Augen steht, interessiert er sich einfach nicht für die Frage, inwieweit die Zugehörigkeit zu einer NS-Organisation das Tagebuchschreiben beeinflusste.
Selbstpositionierung und politische Selbstgestaltung
Bisher ist vom Kern von Steuwers Analysen, also den Wahrnehmungsweisen und Bewertungen der Tagebuchschreibenden, noch wenig die Rede gewesen. Es ist dies das eigentliche Thema, das Steuwer in immer neue Verästelungen hinein verfolgt. In den ersten beiden Teilen seines Buches stehen zwei größere thematische Bereiche im Vordergrund: Erstens die Suche nach einer eigenen Position, zum einen durch intensive Selbstreflexion, zum anderen durch die Beobachtung des sozialen Nahumfeldes, und zweitens die „politische Selbstgestaltung“, wie Steuwer es nennt, im Rahmen des NS-Erziehungsprojektes. Der erste Teil beginnt mit dem Unterkapitel „Die soziale Dynamik der ,Machtergreifung‘“ (ebd.: 48-81), in dem Steuwer die NS-Machtübernahme und deren Verklärung zur „nationalen Erhebung“ schildert. Dieses „nationale Ereignis“ habe die gesamte Nation betroffen und jedes ihrer Mitglieder dazu aufgefordert, Stellung zu beziehen und sich dem NS-Regime zuzuordnen (ebd.: 63). Steuwer betont die notwendige Eindeutigkeit der geforderten Zuordnung. Die individuellen Positionierungen, wie sie sich in den Tagebüchern finden lassen, hatten mit dieser Eindeutigkeit gravierende Probleme. Steuwer bringt unzählige Beispiele dafür: Der Göttinger Pfarrerssohn Karl Möhring meditierte im Sommer 1933 darüber, dass sich seine momentane Sicht des NS-Regimes nicht im Gegensatz zu früheren Ausführungen befinde (ebd.: 71), ein Zentrumswähler rechtfertigte sich vor sich selbst, dass er immer noch zu „metaphysisch“ veranlagt sei (ebd.: 73), ein anderer, die NS-Judenverfolgung kritisierender, abgebrochener Jurastudent zeigte sich bereit, sich mit den neuen Umständen zu arrangieren (ebd.: 80 f.). „Sich zu dem neuen Regime zu positionieren war eine politische wie eine biografische Entscheidung“, resümiert Steuwer (ebd.: 81). Was daran „politisch“ war, in einem privaten Tagebuch eine persönliche Einstellung zum NS-Regime zu entwickeln, verrät er uns nicht.
Seine weiteren Ausführungen kreisen um die Frage, wie die Tagebuchschreibenden es anstellten, ihre Zuordnung zum NS-Regime mit kritischen Positionen zu verbinden. Diese „Gleichzeitigkeit von Zuordnung und Kritik“ (ebd.: 96, 100, 127) zeigte sich in den Tagebüchern vor allen Dingen bei den politischen Ereignissen der Jahre 1933/34 und der Eskalation des Terrors gegen Juden, Andersdenkende und „objektive Gegner“ des NS-Regimes. Steuwer betont, dass die Gewalt „von vielen Zeitgenossen nicht als zentrales Merkmal nationalsozialistischer Herrschaft betrachtet [wurde], sondern als etwas, das mit ihrem weiteren Aufbau überwunden würde“ (ebd.: 110). Die antisemitische Gewalt, die in den Tagebüchern ausführlich registriert wurde, wurde den radikalen Nationalsozialisten, nicht dem NS-Regime angelastet (ebd.: 169 f.). Für die eigene Zuordnung scheinen Beziehungen zu Juden eher nachrangig gewesen zu sein. Sie erfolgte also nicht über den Antisemitismus als ideologischem Kern des NS-Regimes. Wichtiger für die Zuordnung waren die Person des „Führers“ Adolf Hitler und der abstrakte Begriff „Nation“ (ebd.: 108, 115, 121, 128). Für viele dieser Selbstpositionierungen sei kennzeichnend gewesen, meint Steuwer, dass sie unter „sozialer Beobachtung“ erfolgten, wie ein Unterkapitel heißt. Wer erwartet, dass darin ausgelotet würde, wie sich der Anpassungsdruck der NS-Instanzen auf das Individuum auswirkte und wie dies in den Tagebüchern reflektiert wurde, sieht sich enttäuscht. Stattdessen analysiert Steuwer darin individuelle Positionierungen in der Öffentlichkeit, etwa anlässlich der Veranstaltungen des NS-Regimes. Es geht ihm insofern nicht um „Positionsbestimmung unter sozialer Beobachtung“, sondern um die Performanz des Bekennens zum NS-Regime. Hier gelingt Steuwer ein wichtiger Befund in Abgrenzung zu Mary Fulbrook (2011), die ein starkes Auseinanderklaffen zwischen persönlichen Ansichten und öffentlichem Verhalten in der NS-Zeit behauptet hat. Dagegen betont Steuwer, „dass sich die Zeitgenossen trotz der grundsätzlichen Spannung zwischen persönlicher und öffentlicher Positionsbestimmung bemühten, diese beiden Arten der Zuordnung zum Regime für sich in einen Zusammenhang zu bringen“ (Steuwer 2017: 147, ähnlich 153 f.).
Im zweiten Teil von Steuwers Buch geht es schließlich um den individuellen Umgang mit dem NS-Erziehungsprojekt. Darunter versteht er den Anspruch des NS-Regimes an die Zeitgenossen, ihre Lebensweisen und Selbstvorstellungen zu ändern, und dessen erzieherische Aktivitäten. Sein Schwerpunkt liegt auf den je unterschiedlichen Aneignungsweisen des NS-Erziehungsanspruchs, wie er sich in den Tagebüchern widerspiegelt. Er beginnt mit einem Kapitel zu den Akteuren des NS-Regimes und deren Zielen, das unbefriedigend ist, weil er darin nur das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und einige Dienststellen der NSDAP behandelt (ebd.: 185-202). Im darauffolgenden Kapitel über die individuellen Aneignungsweisen der NS-Erziehung, die er seinen Tagebüchern entnimmt, tauchen dann wieder ganz andere Erziehungsinstitutionen wie Wehrmacht (ebd.: 208) oder Bund Deutscher Mädel (BDM) (ebd.: 209) auf. Warum Steuwer nicht einfach die Erziehungsinstitutionen, wie sie sich in den Tagebüchern finden, systematisiert und deren Ansprüche mit den individuellen Erfahrungen der Tagebuchschreibenden abgleicht, bleibt sein Geheimnis. Dafür führt er hier den Begriff „politische Selbstgestaltung“ (ebd.: 206, 208) ein, der im weiteren Verlauf der Analyse eine wichtige Rolle spielt und mit dem Steuwer auf einen für alle Erziehungsprozesse zentralen Aspekt hinweist: die notwendige Mitwirkung der zu Erziehenden an der Erziehung selbst. Freilich bleibt dieser Begriff unerklärt; sein Potenzial für die Analyse der NS-Erziehung wird nicht ausgeschöpft.
Im Mittelpunkt von Steuwers Ausführungen zur „politischen Selbstgestaltung“ (ebd.: 242) steht jedoch die NS-Lagererziehung, also die Maßnahmen zur intentionalen Änderung von Personen, wie sie regelmäßig abgehaltenen lagerähnlichen „Schulungsveranstaltungen“ stattfanden (dazu jetzt resümierend Patel 2018). Angesichts der Organisationsvergessenheit Steuwers kann es nicht weiter verwundern, dass er die institutionelle Seite dieser Lagererziehung nicht zum Gegenstand der Analyse macht; teilweise erfährt man nicht einmal, in welchem Lager welcher Organisation die Tagebuchschreibenden waren. Anhand der Lagererziehung weist er die aktive Beteiligung vieler Zeitgenossen an den NS-Erziehungsbemühungen nach, die er auf Gemeinschaftserlebnisse, Verbundenheit mit der eigenen Kleingruppe und konkrete persönliche Interessen zurückführt. Quellenkritisch bedenklich ist jedoch die bereits erwähnte Ausweitung des Begriffs „Tagebuch“. Neben den klassischen Medien der bürgerlichen Selbstvergewisserung, denen seine einleitenden Bemerkungen galten, zieht Steuwer jetzt auch die im Rahmen von Organisationszugehörigkeiten entstandenen „Erlebnisbücher“ heran, deren primär propagandistischer Charakter ihm natürlich vor Augen steht (Steuwer 2017: 234-241). Dies hindert ihn aber nicht daran, solche Tagebücher gerade für seine Analyse der NS-Lagererziehung ausführlich zu nutzen. Seine Befunde sind insofern durchaus mit einem Fragezeichen zu versehen.
Die Wege individueller „politischen Selbstgestaltung“ im Rahmen des NS-Erziehungsprojekts der Individuen verfolgt Steuwer auch in zwei Unterkapiteln über individuelle Körpererfahrungen (ebd.: 279-307) und die große Bedeutung eines Faktors wie „Herkunft“, die sich aus der notwendigen Erstellung von „Ahnenpässen“ zum Beweis der eigenen „arischen Abstammung“ ergab (ebd.: 307-358). Steuwer lässt keinen Zweifel daran, dass viele der Zeitgenossen die damit einhergehenden „rassenhygienischen“ Topoi unreflektiert übernahmen. Inwieweit sie jedoch die NS-Judenverfolgung als Herausforderung empfanden, Empathie mit den Opfern entwickelten und mit dem NS-Regime in Konflikt gerieten, erörtert er hier nicht. Unklar bleibt auch, wie sich diese fast schon manische Befassung mit genealogischen Fragen mit dem Befund des ersten Teiles verträgt, dass die NS-Judenpolitik und die Beziehung von Nichtjuden zu Juden für die individuelle Zuordnung zum NS-Regime und für den Prozess der Selbstpositionierung keine Rolle gespielt habe (ebd.: 164-171). Im gesamten zweiten Teil stört wieder die subjektivistische Schlagseite. Welche Praktiken das NS-Erziehungsprojekt umfasste, welche Organisationen sich daran beteiligten und welche Evaluationskriterien und Sanktionen sie entwickelten, um ihren Erziehungsmaßnahmen den nötigen Nachdruck zu verleihen, wird kaum thematisiert.
Die Politik und ihr Publikum
Neben Selbstpositionierung und politischer Selbstgestaltung als den beiden Mechanismen der je individuellen Verarbeitung des Nationalsozialismus durch die Zeitgenossen versucht Steuwer im dritten Teil des Buches, das Verhältnis zwischen den politischen Instanzen und der Bevölkerung auszuloten. Er folge einem „engen Politikbegriff, der vor allem das Zusammenspiel der Akteure, Prozesse und Strukturen in den Mittelpunkt rückt, die an der Festlegung allgemeinverbindlicher politischer Entscheidungen beteiligt sind“ (ebd.: 357). Wenig später liest man: „Entsprechend stehen im Folgenden das ,politische System des Nationalsozialismus‘ und die Frage, wie die Bevölkerung auch in der Diktatur hierin eingebunden war, im Mittelpunkt“. Angesichts dieser Ausführungen wäre zu erwarten gewesen, dass Steuwer jetzt endlich seine zweite Ausgangsfrage nach jenen Herausforderungen aufnimmt, die sich aus den Reaktionen der Zeitgenossen für die politischen Gestaltungsmöglichkeiten des NS-Regimes ergaben. Dazu hätte er die Perspektive des NS-Regimes in den Mittelpunkt stellen und Wechselwirkungen zwischen Regierungspolitik und kollektivem Verhalten ausloten müssen. Nach den quellenkritischen Ausführungen zu den Lageberichten heißt es dann aber vollkommen unvermittelt, im weiteren Verlauf gehe es um die „Entstehung neuer, den veränderten Bedingungen der NS-Diktatur angemessener Formen politischen Handelns und Bewertens sowie deren Bedeutung für das politische System und für das Alltagsleben der Deutschen“ (ebd.: 378). Was sich hinter diesem kryptischen Satz verbirgt, erschließt sich dem Leser nicht. Von den politischen Gestaltungsmöglichkeiten des NS-Regimes ist jedenfalls keine Rede mehr.
Im weiteren Verlauf des dritten Teils steht vielmehr ein Aspekt im Vordergrund, den man als individuelle politische Meinungsbildung bezeichnen kann, die anhand jener Beobachtungen der Regierungspolitik erfolgte, wie sie den Tagebüchern zu entnehmen sind. Steuwer bringt dies an keiner Stelle auf den Punkt, sondern führt eine Vielzahl von Begriffen und Konzepten ein, die unerklärt bleiben. Dazu zählen „öffentliche Meinung“, „Meinungsbildung“, „politisches Handeln und Bewerten“, „Teilhabebemühen“, „politische Integration“, „politischer Zuspruch“, „private Räume“, „Öffentlichkeit“, „Privatheit“ und so weiter. Seine Sprache mutiert immer mehr zu einem pseudo-wissenschaftlichen Kauderwelsch, dessen Verstehbarkeit gegen Null geht. Man nehme den symptomatischen Satz auf Seite 386: „Und weil das NS-Regime die formalisierten Verbindungen zwischen Regierung und Volk der Weimarer Demokratie zerstört hatte, kam dieser politischen Kultur des Nationalsozialismus – dem spezifischen Geflecht aus der öffentlichen Darstellung nationalsozialistischer Politik und den hierauf bezogenen Formen individuellen politischen Verhaltens – eine elementare Bedeutung für die Integration der Gesellschaft in das politische System zu“. Hier bleibt fast alles nebulös, was ausgesagt wird. Worin bestanden die „formalisierten Verbindungen zwischen Regierung und Volk“ in der Weimarer Republik, die das NS-Regime zerstört hatte? Waren es die regelmäßig abgehaltenen allgemeinen, freien und geheimen Wahlen, war es die Repräsentativverfassung, symbolisiert in einem von mehreren politischen Parteien getragenen Parlamentarismus im Reich und in den Ländern? Was bedeutet „Integration der Gesellschaft in das politische System“ (ein besonders schönes Beispiel für den hier vorwaltenden Jargon)? Worin bestand die politische Kultur des Nationalsozialismus genau? Offenbar aus einem spezifischen Geflecht zwischen der Außendarstellung aus der NS-Politik und den darauf bezogenen individuellen Verhaltensformen. Aber was war daran eigentlich spezifisch? Das politische System moderner Nationalstaaten ist gerade durch eine zirkuläre Abhängigkeit zwischen Politik und Publikum gekennzeichnet (Luhmann 2000: 274-318). Bei Steuwer fällt diese Zirkularität aus, weil er lediglich Publikumswahrnehmungen in seinen Blick nimmt und sich für die Entscheidungsprozesse des NS-Regimes nicht interessiert.
Dass die Medienrezeption eine zentrale Rolle für das politische Verhalten der Zeitgenossen spielte, wie Steuwer mit einigem Aplomb konstatiert (Steuwer 2017: 403, 432 u. ö.), überrascht nicht. Den Massenmedien entnahmen sie Informationen über die Verhaltensanforderungen des NS-Regimes, und erst in der Auseinandersetzung mit deren Konzepten konnte sich überhaupt ein Abgleich mit den eigenen individuellen Standpunkten entwickeln. Dass aus den Tagebüchern keine „öffentliche Meinung“ hervorgehen konnte, weil die Öffentlichkeit fragmentiert war und sich Individualmeinungen nicht aggregieren ließen (ebd.: 420), ist Steuwer bewusst. Worum geht es in diesem dritten Teil also? Im Grunde genommen reiht Steuwer individuelle Beobachtungen und Bewertungen der NS-Regierungspolitik aneinander, die zwischen ostentativer Unterstützung und eher skeptischer Zurückhaltung oszillierten. An vielen Stellen räsoniert er über den Grad der Einbindung der Tagebuchschreibenden ins politische System des Nationalsozialismus (ebd.: 454 f., 457, 459 u. ö.). Seine These, die Integration der Zeitgenossen sei „grundsätzlich weniger aus der Verbreitung politischer Ansichten durch Radio und Zeitung“ erwachsen, sondern „eben aus der Interaktion zwischen gelenkten Massenmedien und Medienkonsumenten selbst“ (ebd.: 457), ist jedoch absurd. Ein wesentliches Kennzeichen des Nationalsozialismus war ja, immer wieder aufs Neue Wohlverhalten zu erzwingen, und zwar nicht nur im stillen Kämmerlein, in dem ein großer Teil des Medienkonsums (das Kino ausgenommen) stattfand, sondern gerade auch in Taten. Es hätte eine gute Möglichkeit gegeben, diese erzwungene Performanz besser in den Blick zu bekommen: die „Reichstagswahlen“ des Jahres 1933, 1934 und 1938. Den Tagebüchern, die Steuwer in diesem Zusammenhang zitiert (ebd.: 459, 461 u. ö.), ist zwar allerhand Allgemeines über die politische Situation zu entnehmen; wie die Tagebuchschreibenden selbst abgestimmt haben, verraten sie uns nicht. Politische Integration wird bei Steuwer mit dem Wahrnehmen des Politischen und dem Schreiben darüber gleichgesetzt: Pointierter gesagt: Tagebuchschreibende waren schon dadurch, dass sie über Politik schrieben, ins NS-Regime integriert!
Halbierter Nationalsozialismus (oder der nicht vorkommende Krieg)
Wenn es einen Common Sense in der neueren NS-Forschung gibt, dann besteht dieser in der weitgehenden Anerkennung der Notwendigkeit, die NS-Zeit in ihrer gesamten zeitlichen Erstreckung behandeln zu müssen. Steuwer kehrt diese Perspektive um und widmet sich der Vorkriegszeit, nicht jedoch, ohne einen Ausblick auf die Zeit nach 1939/40 zu wagen. Selbiges geschieht im Kapitel „Schluss“ (ebd.: 549-568), wo der Leser eigentlich eine Zusammenfassung der Ergebnisse erwartet hätte. Auf diesen knapp 20 Seiten finden sich noch einmal 91 Fußnoten, die allermeisten mit Quellennachweisen, viele davon mit Tagebucheinträgen aus dem Herbst und Winter 1939. Einen guten Teil der Analyse widmet Steuwer dabei dem Sachverhalt, dass viele der Tagebuchschreibenden eine Parallele zwischen dem Beginn des Ersten und des Zweiten Weltkrieges zogen (ebd.: 551 f.). Er betont die Skepsis, die viele beschlich, und die Differenzen zum „Augusterlebnis“ 1914. Allerdings hinkt der Vergleich zwischen dem August 1914 und dem September 1939, weil der Erste Weltkrieg ein traditioneller Waffengang mit Kriegserklärung war und den Zeitgenossen im Herbst 1939 noch gar nicht deutlich war, dass sich der „Polenfeldzug“ zu einem Weltkrieg auswachsen würde. Dass der August 1914 „einen herausragenden Moment in der Transformation und Demokratisierung [sic!] der politischen Öffentlichkeit in Deutschland“ markierte (ebd.: 564), dürfte eine Bewertung sein, die nicht viele andere Historiker teilen.
Ansonsten ergeht sich Steuwer in nichtssagenden Gemeinplätzen: „Die Herausforderungen, die das NS-Regime am Beginn seiner Herrschaft formuliert hatte, verschwanden nicht. Aber viele der Denk- und Verhaltensweisen, mit denen die Deutschen in den 1930er Jahren auf die neuen Herausforderungen reagiert hatten, ließen sich unter den Bedingungen des Krieges nicht mehr aufrechterhalten, mussten adaptiert werden oder gewannen bislang unbekannte Bedeutungen hinzu. Zudem formulierte der Krieg selbst neue Herausforderungen an den Einzelnen, die neben die Ansprüche an grundsätzliche Zuordnung, die Veränderung individueller Lebensweisen und Selbstsichten und die politische Unterstützung des Regimes traten, sich mit diesen verknüpften oder sie in den Hintergrund drängten. In der Begegnung mit ,Feinden‘ und ,Gegnern‘ in den besetzten Gebieten, aber auch mit den Millionen von dort nach Deutschland verschleppten Kriegsgefangenen und Zivilisten stellte sich die Frage nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit oder Ausgrenzung in einer anderen Weise, als zu jüdischen oder politisch diskreditierten Nachbarn in den 1930er Jahren“ (ebd.: 567). Offenbar war die individuelle Zuordnung zum NS-Regime vor allen Dingen in der Kriegszeit äußerst dynamisch. Diese Dynamik hat Steuwer im ersten und zweiten Teil seines Buches zwar angedeutet, als er sich mit einigen Aspekten des Antisemitismus beschäftigte, wie er von den Zeitgenossen in der Vorkriegszeit wahrgenommen wurde. Sie hätte eindringlicher herausgearbeitet werden können, wenn Steuwer die Kriegszeit gleichgewichtig in seine Analyse einbezogen hätte.
Und Gesellschaft?
Über das gesamte Buch hinweg beansprucht Steuwer, manchmal explizit, manchmal subkutan, einen wichtigen Beitrag zu einer Gesellschaftsgeschichte des NS-Staates leisten zu wollen. Er versucht, die Tagebücher mittels ausführlicher Analyse der Sekundärliteratur zu kontextualisieren und sie an die allgemeine historische Entwicklung des NS-Regimes zurückzubinden. 26 Seiten Literaturverzeichnis mit mehr als 500 Titeln zeugen von diesem Fleiß. Natürlich geht es dabei immer um politische Ereignisse und um das System der Politik. Dies aber löst das Problem, von den Tagebüchern als Quellen spezifischer Individuen auf die Referenzebene „Gesellschaft“ zu gelangen, nur unzureichend. Deshalb erklärt Steuwer sein Tagebuchsample einfach als repräsentativ für „Gesellschaft“. Die Argumentationsstruktur ist äußerst interessant: „In der Tat lassen sich Schilderungen aus einzelnen Tagebüchern nicht aussagekräftig auf die Gesellschaft hochrechnen. Sie stellen Äußerungen konkreter Personen dar, die nicht in den sozialen Merkmalen der Biografie des Verfassers aufgehen. Dennoch lassen sich auch mit Tagebüchern grundsätzliche und allgemeingültige Erkenntnisse gewinnen. Dafür ist jedoch ein methodisch reflektierter Umgang mit ihnen notwendig, der die Spezifika dieser Textsorte ernstnimmt“ (ebd.: 22). Sieben Seiten weiter beteuert er, „Autoren sehr unterschiedlicher sozialer Herkunft berücksichtigt“ zu haben (ebd.: 29). „Zwar stellen Tagebücher von Rechtsanwälten, Ärzten, Studenten, Lehrern und anderen Autoren mit bildungsbürgerlichem Hintergrund oder akademischen Berufen etwa zwei Fünftel des Quellensamples. Die restlichen drei Fünftel stammen jedoch von Autoren, die in abhängiger Beschäftigung arbeiteten, als Selbständige tätig oder ohne Arbeit waren“. Genauer gesagt, ist Gesellschaft bei Steuwer die Summe aller Individuen, deren sozio-kulturelle Merkmale irgendwie mit einer Gesamtheit korrelieren sollen, die jedoch nie genauer spezifiziert wird (jedenfalls nicht im sozialgeschichtlichen Sinn). Der Begriff „Gesellschaft“ wird bei Steuwer zumeist deckungsgleich mit „Bevölkerung“ benutzt.
In dieser Begriffsverwendung zeigt sich nicht nur eine Abkehr, wenn nicht gar Ignorierung der in den Geschichtswissenschaften seit den 1970er Jahren erarbeiteten gesellschaftsgeschichtlichen Konzepte (für den Nationalsozialismus ist paradigmatisch Wehler 2003). Auch soziologische Theorien von „Gesellschaft“ sind Steuwers Sache nicht. Dass sich das „Dritte Reich“ seit 1933 zur Gesellschaft entwickelte, die maßgeblich auf Organisationen und Organisationszugehörigkeit basierte, ficht ihn ebenso wenig an. Wichtige Bereiche wie die Ökonomie, Recht, Kunst und die Wissenschaft werden auch nicht analysiert, so dass der Anspruch auf Gesellschaftsgeschichte vermessen und verfehlt zugleich erscheint. Am deutlichsten zeigt sich dies im Kapitel zum NS-Erziehungsprojekt, das immer nur auf der Ebene individueller Wahrnehmung abgehandelt wird, nie auf der Ebene der Institutionen der Erziehung. So bleibt eine immense Lücke zwischen dem eingangs postuliertem Erkenntnisinteresse und der tatsächlichen Analyse. Mit seinem Anspruch, mittels einer Art subjektivierungsgeschichtlicher Erweiterung eine neue Perspektive auf die Gesellschaftsgeschichte des NS-Staates zu eröffnen, hat sich Steuwer eindeutig überhoben. Es geht in seiner Analyse immer nur um individuelle Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen politischer Aspekte, kaum einmal um Privates und schon gar nicht um „Gesellschaft“, von der Steuwer im Grunde genommen gar keine begriffliche Anschauung hat. Über weite Strecken des Buches findet sich genau jene Polarisierung zwischen „Herrschaft“ (meistens durch den nicht erläuterten Begriff „Regierung“) und „Gesellschaft“ (in der Regel bestehend aus Individuen mit Namensnennung), die die NS-Forschung mittlerweile überwunden zu haben glaubte.
Was ist dann eigentlich der zentrale Befund dieser Studie, an dem die weitere Forschung ansetzen kann? Originalton Steuwer: „Tagebücher der 1930er Jahre eröffnen aber deshalb beeindruckende Lektüren und neuartige Einsichten, weil ihre Eintragungen die unterstellte Trennung von privatem Leben und nationalsozialistischer Politik so oft kreuzen. Sie zeigen nicht einfach, wie sich Zeitgenossen gegen übermächtige Strukturen zur Wehr zu setzen versuchten. In ihnen kann man vielmehr verfolgen, wie die jeweiligen Autoren unter politischen Bedingungen, die darauf ausgelegt waren, ihre Lebensweisen und -ansichten gezielt zu verändern, oftmals mit Nachdruck darum rangen, ein eigenes Leben mit diesen Strukturen zu leben: Auch wenn das NS-Regime seiner Forderung nach Zuordnung ein Modell zugrunde legte, das eindeutig zwischen ,Anhängern‘ und ,Gegnern‘ unterschied, waren zahlreiche Tagebuchautoren darum bemüht, einen Weg der Zuordnung jenseits der geforderten Eindeutigkeit zu finden, um eigene politische Meinungen und individuelle Selbstsichten mit dem geforderten politischen Statement zu verbinden. Sogar dort, wo das NS-Regime konkrete symbolische Formen der Zuordnung durchsetzte und Zeitgenossen zu deren Anwendung zwang, dachten Tagebuchschreiber intensiv darüber nach, wie sich mit der vorgegebenen Form ihre spezifische Positionierung zum NS-Regime ausdrücken ließ“ (Steuwer: 2017: 546 f.). Hier findet sich erneut der Steuwer-Stil nebulöser Bandwurmsätze und unerklärter Präsuppositionen, der sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch zieht. Wer hat die Trennung von privatem Leben und nationalsozialistischer Politik „unterstellt“? Welche „übermächtigen Strukturen?“. Welches Modell der Zuordnung und warum nur eines (gab es keine Dynamik?). Warum waren einige Formen der Zuordnung „symbolisch“? Wie „zwang“ das NS-Regime die Zeitgenossen zur Anwendung dieser Formen? Man hätte das alles auch einfacher formulieren können: Die Zeitgenossen reflektierten in ihren Tagebüchern die strukturelle Entwicklung des NS-Regimes und versuchten, sie mit ihrem eigenen Leben und ihren eigenen persönlichen Präferenzen zu vereinbaren. Ihre Sozialisation, um an dieser Stelle einmal einen altmodischen soziologischen Begriff einzuführen, geschah primär im Modus der Resonanz mit dem politischen System, das ist die Hauptthese des Buches.
Finis: Singularitätsversessenheit
Jede Historikerin und jeder Historiker schreibt in der Gegenwart und bezieht sich von diesem Standpunkt aus auf die Vergangenheit; Geschichte ist deshalb eine Funktion des gegenwärtigen Standpunkts (Landwehr 2016: 39-45). Man kann Geschichtsschreibende danach klassifizieren, inwieweit sie diese Tatsache reflektieren und in ihr Werk einfließen lassen. Steuwer unterlässt jedwede Selbstreflexion. Sein Buch spiegelt eine Gegenwart wider, die der Soziologe Andreas Reckwitz (2017) die „Gesellschaft der Singularitäten“ nennt. Reckwitz unterscheidet zwischen zwei Abschnitten der Moderne, die je unterschiedlichen Logiken des Sozialen folgen: zum einen die klassische (oder auch organisierte) Moderne, die auf einer Logik des Allgemeinen basiert, und eine Spätmoderne (deren Beginn auf die 1980er Jahre zu datieren wäre), in der ein Prozess zu beobachten ist, den er als „Singularisierung“ bezeichnet. „Bei Singularitäten handelt es sich um Entitäten, die innerhalb von sozialen Praktiken als besondere wahrgenommen und bewertet, fabriziert und behandelt werden. Singularitäten sind das Ergebnis von sozial-kulturellen Prozessen der Singularisierung. Sie kommen innerhalb einer sozialen Logik des Besonderen zur Geltung. In einer solchen Logik werden Objekte, Subjekte, Räumlichkeiten, Zeitlichkeiten und Kollektive in Praktiken der Beobachtung, der Bewertung, der Hervorbringung und der Aneignung zu Singularitäten gemacht, es findet ein doing singularity statt“ (ebd.: 50 f.).
In Steuwers Buch entsteht eine regelrechte Singularitätsversessenheit. Die Singularitäten, die er „macht“, beziehen sich auf die Tagebücher als Bestandteil einer sozialen Logik des Besonderen (= Objekte), die Tagebuchschreibenden (= Subjekte), deren soziale Umfelder, einschließlich des Privaten (= Räumlichkeiten), das Jahr 1933 als Beginn der Notwendigkeit einer „Zuordnung“ zur „nationalen Erhebung“ (= Zeitlichkeit) und die Quellengattung „Tagebuch“ im Unterschied zu anderen möglichen Quellen wie den Lageberichten (= Kollektivität). Auch bei Steuwer finden sich jene vier Praktiken dieses „doing singularity“, die Reckwitz identifiziert: die Beobachtung besteht in einer Analyse der bisherigen Verwendung der Tagebücher in der NS-Forschung, die Bewertung erfolgt durch Abwertung des Anderen (anderer Quellengattungen und Autoren), die Hervorbringung basiert auf dem Anspruch auf eine holistischen Lektüre, und die Aneignung geschieht mittels einer historiografischen Praxis, die man als paraphrasierend-kommentierendes Schreiben entlang der Tagebücher bezeichnen kann. Diese Singularitätsversessenheit geht zudem mit einer Authentizitätsfiktion einher: als Tagebücher sind die Quellen bei Steuwer authentisch (gemeint ist hier: authentischer als andere Quellen), weil sie angeblich von realen Subjekten im unmittelbaren Prozess ihres eigenen Erlebens niedergeschrieben wurden. Verstärkt wird diese Authentizitätsfiktion durch die Unterschlagung des Sachverhalts, dass viele der Tagebücher organisatorisch gerahmt waren, und durch die Homogenisierung der in der Realität äußerst diversifizierten Gattung „Tagebuch“.
Die Präferenz für Subjektives und die damit einhergehende Hypostasierung der Tagebücher, der Steuwer sich wieder und wieder hingibt, führen zu insgesamt sieben Problemen: Erstens stehen Fragestellung und Analyse in einem unüberbrückbaren Gegensatz. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass Steuwers ambitioniertes Erkenntnisinteresse von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist, weil seine Dokumente schon aus strukturellen Gründen keine Antworten auf seine Frage zu liefern vermögen. Deren verkürzende Lektüre führt schließlich zweitens dazu, dass Steuwers Befunde einseitig auf die Wahrnehmung des Politischen begrenzt bleiben und das Private nur dann in den Blick gerät, wenn es „politisch“ wahrgenommen wird. Drittens kümmert sich Steuwer zu wenig um einen Sachverhalt, den man als die Verantwortung des Historikers für die Form bezeichnen könnte. Weder versucht er, die Stofffülle mittels theoretischer Konzepte zu bändigen, noch folgt seine dreiteilige Gliederung einem überschaubaren Schema. Dies führt zu einer mäandernden Narration mittels Substantivierungen und Bandwurmsätzen, deren Lektüre gerade im dritten Teil immer mehr zur Qual wird. Viertens tendiert Steuer dazu, jede Dynamik aus seiner Analyse zu tilgen. Individuelle Persönlichkeitsentwicklungen bleiben aufgrund seiner Herangehensweise ebenso im Dunkeln wie die gesamte Zeit des Zweiten Weltkrieges, für deren Aussparen es keinerlei methodisch zwingende Argumente gibt. Fünftens sind seine zentralen Begriffe „Positionierung“ und „politische Selbstgestaltung“ unterbestimmt, weil sie sich kaum auf die Wechselwirkungen zwischen Tagebuchschreibenden und politischem System beziehen. Dies erklärt sich sechstens aus der weitgehenden Ausblendung des NS-Regimes als Akteur, der primär in der sozialen Form „Organisation“ verfasst war. Siebtens schließlich räumt Steuwer beiseite, was die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und die NS-Forschung im Speziellen bisher an Methoden und Begriffen zur Interpretation des Nationalsozialismus benutzt hat.
Der siebte und letzte Punkt lässt sich an vielen Stellen nachweisen, an denen sich Steuwer mit konkurrierenden Konzepten auseinandersetzt, die er mit dem Argument zu kontern versucht, eine methodisch versierte Lektüre der Tagebücher sei gewinnbringender. Den Nachweis dafür bleibt er in der Regel schuldig. Subjektives und Objektives, Besonderes und Allgemeines stehen bei Steuwer nicht in einem (produktiven) dialektischen Spannungsverhältnis zueinander. Vielmehr lässt er das Allgemeine immer mehr im Besonderen untergehen und behauptet noch, letzteres sei „wahrer“. Dies widerspricht jener epistemologischen Warnung, die Joan Scott (2013: 144) für die Erfahrungsgeschichte ausgegeben hat: „Deshalb müssen wir bei historischen Prozessen darauf achten, dass die Position durch den Diskurs subjektiviert und dass die Erfahrungen der Subjekte produziert werden“. Bei Steuwer sind die Erfahrungen zwar auch produziert, aber nicht durch Diskurse, Felder oder soziale Systeme, sondern durch die je individuellen Wahrnehmungs- und Aneignungsweisen der NS-Politik, die in den Tagebüchern zum Ausdruck kommen. Sie sind, wenn man so will, selbstreferenzielle Produkte der jeweiligen Personen. Steuwer meint, er habe sich auf der Referenzebene „Gesellschaft“ bewegt, liefert aber in Wahrheit nur eine Variante der heute üblichen Kulturgeschichte. Man kann die von mir vorgebrachte Kritik, frei nach Reckwitz, auch als eine lesen, die aus der Perspektive der klassischen Moderne vorgenommen wird und die Präferenzen der Spätmoderne, für die Steuwers Herangehensweise steht, in Zweifel zieht. Dann wären die Positionen des hier schreibenden Ego und des kritisierten Alter inkommensurabel und man könnte geneigt sein, diesen Unterschied einfach stehen zu lassen und produktiv zu machen. Epistemologisch hieße das, sich dem Nationalsozialismus entweder auf gesellschafts- oder auf kulturgeschichtliche Art und Weise anzunähern. Einstweilen glaube ich allerdings, dass man den Nationalsozialismus mit der Brille der Gesellschaftsgeschichte schärfer sehen kann als mit der Brille der Kulturgeschichte. Eine Widerlegung dieser Ansicht ist natürlich nicht ausgeschlossen, aber die kulturgeschichtliche Analyse des Nationalsozialismus steckt noch in den Kinderschuhen (Cultural Turn 2017). Steuwers Buch trägt wenig dazu bei, diesen Zustand zu beenden.
Referenzen
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