erste Zwischenbetrachtung

Lange Zeit ist das schreibende Subjekt dieses Blogs stumm geblieben. Seit dem letzten Eintrag sind mehr als sieben Monate vergangen; in der schnelllebigen Echtzeitwelt der Massenmedien eine halbe Ewigkeit, in der Wissenschaft, zumal der historischen, die ja auch die longue durée erfunden hat, jedoch nur ein Wimpernschlag. Der Gründe des temporären Verstummens wären viele zu nennen; sie sind für das hier vertretene Anliegen (das Schreibenwollen, das scripturire) gleichwohl irrelevant, weil sich dieses Begehren im schreibenden Ich weder abgeschwächt noch sonst irgendwie verändert hat, wie sich auch seinen in der Zwischenzeit beendeten Publikationen und Tagungsbeiträgen entnehmen lässt (Texte und Tagungsteilnahmen II). Immer noch verspürt es diese „Textlust“, von der Roland Barthes einmal gesprochen hat, diese gleichzeitige Lust auf das Lesen der Texte Anderer und auf das eigene Schreiben, die eigene écriture. Diese „Textlust“ bezieht sich immer noch sowohl auf empirische Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus als auch auf die poststrukturalistische beziehungsweise systemtheoretische Sozialtheorie. Am liebsten ist dem schreibenden Ich eine Kombination beider Teilbereiche, und die bevorzugte Referenzebene ist „Gesellschaft“ (nicht etwa „Kultur“, was immer darunter zu verstehen ist).

Bei der bisherigen Arbeit am Blog hat sich gezeigt, dass sie eines inhaltlichen und zeitlichen Aufwands bedarf, der im Vorhinein niemals kalkulierbar ist. Einträgen von einer Manuskriptseite (1.800 Anschläge) stehen solche gegenüber, die schon Aufsatzlänge haben. Dies soll sich im Grundsatz nicht ändern; auch die Frequenz der postings wird unregelmäßig bleiben (wenngleich mit geringeren Verzögerungen). In den kommenden Monaten werden die bisherigen Serien von Einträgen so fortgeführt, wie sie begonnen wurden, und um neue erweitert. Die Form dieses Blogs wird weiterhin einem Labyrinth ähneln. Das schreibende Ich ist sich darüber im Klaren, dass eine Neuinterpretation des Nationalsozialismus ein Ding der Unmöglichkeit ist, es jedoch aus einer Reihe von Grünen einer permanenten Bewegung auf dieses Ziel hin bedarf. Und das Labyrinth scheint die passende Metapher dafür: Geschichtswissenschaft mit einem Ziel, aber ohne Ausgang. Ohnehin sucht ein labyrinthischer Mensch, so hat irgendjemand einmal gesagt, nicht etwa die Wahrheit, sondern seine Ariadne.

Dieser Blog ist hoffentlich für diejenigen Historikerinnen und Historiker interessant, die

  • Clio nicht länger im Namen der public history prostituieren
  • neue Interpretationen des Nationalsozialismus vorlegen (wollen)
  • Nacherzählungen vermeiden und dennoch quellenbasiert arbeiten
  • Theorien verwenden und neue Begriffe zu bilden versuchen
  • problembezogen analysieren und historische Urteile fällen
  • ihren Standort offenlegen und sich nicht fälschlicherweise „objektiv“ dünken
  • die Sekundärliteratur immer wieder neu lesen und benutzen
  • Neuerscheinungen rezensieren und das Neue darin erkennen
  • ihre Thesen zwar verteidigen, dabei aber nicht nach Deutungshoheit streben
  • schreiben anstatt historiografische Schulen zu bilden

Auch in Zukunft werden die Texte dieses geschichtswissenschaftlichen Blogs Produkte eines doppelten Überschusses sein: eines Überschusses an Ideen, die aus der Lektüre einschlägiger wissenschaftlicher, literarischer und tagesaktueller Schriften und aus anderweitigen Impulsen resultieren, und eines Überschusses eines Schreibens, das aufgrund der Schwerpunktsetzung der einschlägigen Fachorgane und der darin grassierenden Manie des peer reviews kaum mehr seinen Platz findet, geschweige denn in den Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen, wo sich in aller Regel große alte Männer der Geschichtswissenschaft tummeln (die gleichwohl langsam aussterben) und eine Altherrenhistoriografie des „wie es eigentlich gewesen“ gepflegt wird.

Und der Stand der NS-Forschung im Herbst 2016? Wie stellt sie sich dar, welche Schwerpunkte setzt sie? Immer noch ist sie empirisch gesättigt, wenn nicht positivistisch, immer noch orientiert sie sich eher am Ideal der Beschreibung denn der problemorientierten Analyse, zusehends geht es ihr um Individuen und ihre Erfahrungen, weniger um Kollektive, immer noch ist der Holocaust ihr interpretatorisches Zentrum, verstärkt kapriziert sie sich auf die Selbstermächtigung der Täter und Mitläufer (allerdings deutlich erweitert um Frauen und deren Handlungsräume), immer noch geht sie von einer in sich geschlossenen Ideologie aus, die handlungsleitend war, immer noch erforscht jede Disziplin „ihre“ NS-Geschichte mit den jeweils eigenen Methoden, die miteinander immer inkommensurabler werden (vielleicht sind wir schon auf dem Weg von der Multi- zur Polydisziplinarität), immer weiter spezialisiert sich die NS-Forschung und immer noch ist sie um die öffentlichkeitswirksame Vermittlung ihrer Ergebnisse beziehungsweise ihre projektförmige Anwendung in einer sich public history nennenden Branche bemüht.

Im Grunde genommen also nichts Neues, allerdings mit drei wichtigen Nuancen. Erstens ist mittlerweile die Rückkehr des Hitlerzentrismus zu vermelden. „Mein Kampf“ ist jetzt in einer monumentalen, pädagogisch inspirierten und für wissenschaftliche Zwecke kaum brauchbaren Edition des Münchener Instituts für Zeitgeschichte verfügbar, es existiert ein Itinerar jener Orte, auf die der „Führer“ je seinen Fuß gesetzt hat, Biografien, Ideen- und Weltanschauungsexegesen überschwemmen uns. Zweitens rückt der subjektive Faktor zunehmend ins Rampenlicht, Alltags- und Erfahrungsgeschichten, Tagebucheditionen, Memoiren schießen wie Pilze aus dem Boden (ein Schelm, wer denkt, dies könnte etwas mit der in den heutigen westlichen Gesellschaften dominierenden Suche nach Authentizität und der Hypostasierung subjektiver Erfahrung zu tun haben!). Drittens gibt es einen Hang zur Produktion immer neuer Überblicksdarstellungen, die in der Mehrzahl die empirische Forschung gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen, sondern sich auf die angeblich so bewährten Werke der 1970er und 1980er Jahre stützen. Es handelt sich dabei in der Regel nicht um Synthesen im besten Sinne des Wortes, sondern um ein Widerkäuen von bereits Bekanntem, gerechtfertigt mit der Notwendigkeit, dem vermeintlichen Publikum schnell verfügbares „Orientierungswissen“ liefern zu müssen.

Diese drei Trends spiegeln nicht nur ein mangelndes Interesse an geschichtswissenschaftlicher Innovation, sondern auch einen zunehmenden Mangel an Selbstreflexion der NS-Forschung wider. Müßig zu erwähnen, dass ihnen in diesem Blog keinerlei Raum gegeben wird. Hier geht es vielmehr darum, die Geschichte des Nationalsozialismus durch die Generation der um 1968 Geborenen neu zu schreiben.